1968 - 1969

... aber auch alles zu klären beginnt“, notiert er Ende September 1969. Das Ende der Seefahrten kündigt sich an.

3.1.68, Dakar
Bei Zero auf dem Taxameter fing es an, als romanartiges Tagebuch über Reisen mit und ohne Leben.

10.1.68
Ich mache immer denselben Fehler, ich fange geradewegs an besser zu malen und lasse mich dann gehen. Ich muss mir überlegen, wo man Karma vermutet. Außerdem rede ich zu viel.
Expansion durch Kontraktion. Ich muss mich reduzieren. Aber wie und wo die Weichen stellen? Ich muss abnehmen und Noten lernen.
Ich muss mir vor allem angewöhnen, vor dem Schlafengehen und nach dem Aufwachen zu meditieren. Meditieren, wo der Anfang von dem verfluchten Rattenschwanz zu malen ist.
Der Weg des Helden, der im großen Leben maßgelandet ist, aber sich zurückzieht und in der Stille seine Persönlichkeit ausbildet, ist der Weg des verborgenen Heiligen.
Liebe, Zucht und Ordnung: Sind Worte und Benehmen nicht im Einklang, dann bleibt die Wirkung aus.

22.1.68
Ich glaube, es ist doch das Vernünftigste, zu sparen und sich selbstständig zu machen. Auf die Art und Weise kommst Du am schnellsten zu Geld.

Chinesische Lampen. Manche aus Papier, und Holz oder Plastik.

Die chin. Mathematik und der Senfkorngarten sind die beiden Bücher, weshalb alleine sich der Aufbruch von München gelohnt hat.

Ich muss jetzt wieder sammeln und sparen und dann, jetzt ist es noch nicht zu spät, jeden Pfennig sparen. Gitta wäre gut für den Laden und auch später. (...) So ein Modepüppchen kannst du doch nicht gebrauchen.

Wenn die Rede von der Umwälzung dreimal ergangen ist, dann mag man sich ihm zuwenden. Gitta hat nicht geschrieben und außerdem bin ich mir nicht mehr sicher ...

Die folgenden Seiten des Tagebuches enthalten ausschließlich Skizzen und Collagen, zum Teil mit Textkommentaren. Walter Reinhardt ist von Selbstzweifeln und Zukunftsängsten geplagt: Keine Arbeit, nur das Selbststudium der Malerei erscheint ihm als Einziges sinnvoll. Er erlegt sich Studien nach Vorbildern auf, kopiert und wendet die Stilübungen aber auch sogleich bei eigenen Motiven an. Paul Klee und Dürers „Buch der Messungen“ sind ihm Vorbilder, er nimmt sich vor, „systematisch und morphologisch“ zu zeichnen, in „Kreisen, Dreiecken und Wellen“ und die Zeichnungen aufzubauen „vom Einzeller bis zum Menschen und dessen Organen“.
 Gleichzeitig verfolgt er aber auch die Musik, spielt Gitarre – wie er meint, recht jämmerlich –  und überlegt, das Spielen aufzugeben und die Gitarre zu verkaufen. Er überlegt, alles aufzugeben, aus München wegzugehen und nach Rotterdam zu fahren. Er ärgert sich immer wieder über seinen Mangel an Selbstdisziplin. Gedanken über sein Leben wechseln sich ab mit vielen Zeichnungen und Skizzen. Es gibt jedoch immer wieder auch Lichtblicke ...

16.4.68
Ich sollte jeden Tag etwas
Ich sollte jeden Tag nicht
Weil nicht jeder Tag ist derselben Art. Von dieser Sicht gesehen sollte man das tun, was der Tag fordert. Der Tag fordert immer mehr. Man kauft Karma, indem man mehr büßt. Eine Unterlassung besteht darin, dass man nicht tut, was man tun möchte, sollte und ... Die Kunst des Lebens besteht darin, alles loszuwerden, was man an Wünschen in sich verbirgt. Jeden Tag vollenden mit dem, was du denkst und wünschst.
Richte deine Wünsche auf das dir täglich überhaupt Mögliche. Dann gelingt dir alles. Und was ist mit den Wünschen, die sich nicht erfüllen? Mache sie möglich, wen nicht heute, dann morgen!

Bilder in Zeitungsbildeffekt
Lichtes Blau gegen Braun
Dunkeleffekt.
Silhouetten gegen Goldgründe
Emotionen beim Bildermalen erzeugen.
Innengelenkte Malerei
in Farben malen
(...)
Körper nur ausschalten und Form malen. Verschiedene Lichtlein wie Klingen festhalten.
nur gröbste Formen. Ei etc.
Form ...
Große Formate mit differentem Liniennetz überziehen.
Große Ornamente schaffen.
(...) Blumen Jugendstil

Großflächige Formen mit Farbe ausfüllen
Netze Gitter und Formen
Bo yin Ra
Charaktere aus Buchstaben
Collagen aus Got. Bildern Anbet. der 3 Könige etc.
mit blauem od. ähnl. Gespinst zur Mitte hin dünner werden und mit  einem Wabengitter (...) überziehen.


6.5.68
Wieder etwas bessere Laune.
Morgen fange ich wieder einmal als Vertreter an. Alles hofft auf ein Wunder.
Gestern in der Bauhausausstellung. Die Notizen, die ich mir gemacht habe, sind ungeheuer wertvoll. Vor allem, was die Systematik anbelangt!

6.5.68
Das Bild mit den 4 Gesichtern“, „an den Zellen des Baumes genagelt“. Dazu in der Mitte das Bild vom verhängten Raum“

9.5.68
Heute Abend Meeting mit Fr. Mack (?)
Anschließend Party mit Band. Endlich Grundzüge der Gitarre kapiert. Dabei wollte ich heute die Gitarre verkaufen.
Anschließend langer Spaziergang im Englischen Garten.

Auf den weiteren Seiten finden sich Collagen, Bilder und Skizzen, abstrakt und gegenständlich, bei denen die Konturen bei fast allen Zeichnungen mit dem typischen parallelen Linien verstärkt und betont werden. Anlehnungen an den Malstil des zuvor erwähnten Vorbilds Paul Klee sind deutlich zu erkennen.
Unter einem Bild, das auf den 23.5.68 datiert ist, ist erstmals Reinhardts Signatur zu sehen.
Er spielt mit der Idee zu einem Film oder Theaterstück, die möglichst ohne Geld realisiert werden könnten.


17.5.68
Nachdem ich also einige 1000 Mark Schulden und immer noch keinen Job habe, habe  ich immerhin die Bude aufgeräumt. Als ich gestern über die Leopoldstraße schlenderte, fielen mir in einer Auslage einer Buchhandlung Kirchners Tagebücher auf. Ganz interessant. Habe nun endlich auch einmal bewusst eine Fotografie von ihm gesehen. Ich muss immer wieder anhand von Portraits und Fotos nachspüren, ob das Gemalte mit dem Kopf und Körper zusammenpasst. Oft passt es, manchmal aber erlebt man Überraschungen: ein schmaler asketischer fanatischer Kopf und sensibel.
Mich wundert es immer wieder, mit wie endgültigen Urteilen Maler über Kollegen aufwarten.

17.5.68
Dabei ist man vor solchen Geschichten selbst nicht gefeit. Aber ich bin schon viel vorsichtiger geworden. Ich muss mich um die Notizschrift kümmern.
Ich überlege nur die ganze Zeit schon ein Drop out.
Habe auch Gitarre und Kamera für 150,- versetzt.
Bilder sind bei Rutzmoser:

1. Collage der Traum mit den Entenqallen                 200,-
2. Igelbein mit Kaktuskopf                                                     200,-
3. Drop out aquar. Kart.                                                        200,-
4. Mandala des 4fachen Gesichts mit frdl.+ Kriegsgötter
aquar. Kart.,  alles 66 x 49                                                   200,-
5. Apotheose des Yin und Yang DIN A4
6. Manger (?) und Deus ex machina                                    20,-
7. Heider im Brunnen                                                            20,-
8. Mandala des WR mit dem Zeichen des B. Amitake
und dem schrecklichen
Gesicht                                                                                 20,-

17.5.68
Fast fertig ist ein Tafelbild des Lohan WR auf dem Sockel seiner Seele dargestellt, in 3 Nervenbahnen mit dem 6-fachen Herrn und den Schrecknissen von 4 Windrichtungen.
Ich muss mit einem Werkverzeichnis beginnen.

Meine krakelige Schrift hat sich eigentlich nicht geändert seit der Schule.
(...)

In den folgenden Tagen Ende Mai 68 verfällt Reinhardt förmlich in einen kreativen Schaffensrausch, in dem er seine Ideen systematisch verfolgt: Seitenweise Studien und Skizzen, Gedanken zur optimalen Lebensführung und zum erfolgreichen Malstudium füllen nebst Bildideen und Verweisen auf Vorbilder aus Kunst sowie mathematische Probleme die Seiten. Die Skizzen sind fast sämtlich koloriert und füllen meist die gesamte Seite aus. Zwischendurch Abstürze: Er beklagt seine „penetrante Flucht in Träume“, kapituliert vor Wittgenstein, und Cantor, Bach, Archimedes und Euklid. Offensichtlich im Drogenrausch fantasiert er von Champagner-Weizenbier und den perlenden Blasen von Getränken und fragt sich, „warum das alles“. Auffallend ist die ganz unterschiedliche Sorgfalt und auch die Stilvielfalt in den Skizzen auf den folgenden Seiten: Mal fast unbeholfen wirkende Zeichnungen, dann wieder kompliziert verschachtelte Objekte mit präziser Linienführung, schematische Gesichter, die an fernöstliche Masken erinnern, viele mit differenzierter Farbgestaltung, wechseln sich ab mit Überlegungen zur Erlernen von Maltechniken, dazu, wie Gesichter darzustellen seien oder die Kunst der Frottage zu perfektionieren.

23.5.68
Das ist wirklich die ideale Form des Tagebuchs, eine Kombination von Skizzenbuch und Schreibe.
Die Zeichnungen bilden eine wichtige Gedächtnisstütze, ich mache mir bereits Gedanken, wie ich es so aufhebe, dass ich jederzeit nachschauen kann.
Am Anfang müssten noch die Rotterdamer Blätter kommen. Es ist immer die gleiche Geschichte mit dem System. Jetzt habe ich mich schon auf Musik und Malerei beschränkt, und es ist noch zu viel.
Es ist ein Teufelskreis. Zumal das Erlernen mit allen Möglichkeiten eine nachhaltige Änderung auch des Körpers bedeutet. Meine Ähnlichkeit mit Dadmo. Sambara. Außerdem habe ich von der Deutsch-Tibetischen Gesellschaft keine Antwort bekommen.
Ich bin begierig, die Zukunft zu erfahren, dass ich oft darüber vergesse, was die Gegenwart von mir fordert. Dabei ist es im Verhältnis schon besser geworden. Meine Flucht in die Träume ist penetrant, bedeutet  aber auch, die empfindliche Konstruktion, die mein Körper darstellt, immer wieder bereit zu machen für die täglichen Anstrengungen. Wenn ich das alles richtig bedenke, so müssten andere Leute eine Konstitution von Elefanten haben.
Dabei dreht es sich um die Angleichung von angesammelter Information und technischer Möglichkeit. Es muss also die Technik auf den Stand des Wissens gebracht werden, damit man die Möglichkeit der freien Entfaltung hat.
Damit sind die Voraussetzungen für eine umfassende Koordination gegeben, die wieder neue Möglichkeit eröffnet. Dieser Prozess ist dialektisch nicht erfassbar, denn er endet nicht mit dem Tod, noch hat er im Grunde eine Grenze. Die Tibeter haben irgendwo das Problem gelöst, ebenso die Zen-Buddhisten in einem anderen Sinne. Die Mayas haben dieses Problem ebenso gelöst wie einige Yogis und einige Chinesen. Und es schmeckt mir nach irgendeinem größeren Zusammenhang.
Die Möglichkeit, die A. E. v. Vogt aufgezeigt hat, ist plausibel, aber es geht eben nur in seinen speziellen Weg. (...)
Es dreht sich also erst einmal darum, den Körper auf die Ausgangsposition zu bringen, das heißt ihn aushungern, damit er mit der Befriedigung des Hungers auch den Hunger des technischen Nachhinkens stillt. Damit wäre man einen Schritt weiter. Ansonsten muss der Körper geschmeidig sein wie der Geist – eine Kombination.
Die Menschen sind bisher immer wieder von diesem an sich logischen Weg abgewichen und somit in ihren  Möglichkeiten beschränkt.

Gantama hatte guten Grund, in Askese zu leben.
Er hat das mit seinem Willen erreicht. Für mich ist es bedeutungslos, wie ich es erreiche, mit Drogen oder Tricks. Wichtig ist es, den Körper erst einmal mit dem Geist, Seele wissend in Einklang zu bringen. Ist man in der Lage, den Reaktionen des Körpers zu lauschen, dann kann der Körper als Übersetzer auch den Gedanken seines Gehirns Folge leisten und ein nach Maßgabe vollendetes Geschoss steht vor uns. Damit sind auch die Voraussetzungen für einen Veranschaulichungsprozess geschaffen – der wahrscheinlich in voller Form bereits bei den vorher angeführten Kulturen zu Häufung auftrat und im Abendland manchmal. Die Ganzheitslehre hat fast alle Möglichkeiten auf ihrer Seite. Gesiegt hat bisher immer die andere Seite, weil sie spezialisiert auf das Überleben im Sinne des Wohlergehens und der Ausübung der Macht ist. Der ganze Mensch könnte sich zwar in allen Situationen bewähren, war jedoch auf Grund seiner immensen geistigen und moralischen Überlegenheit nur in der Lage, ein Beispiel abzugeben.

23.5.68  2.00 p.m.
Das Bild mit den 7/2-9/2 Köpfen, die von dem Grundton ausgehen und sich dann spezialisieren. Ich könnte genauso gut die Szene im engl.  Garten (...) machen.

Marianne wieder getroffen.
Die Geschichte mit der Maschine nimmt gigantische Ausmaße an, das Universum, das sich selbst überleben will.
Mich wundert es eigentlich, das heißt, es ist kein Wunder, dass er ausgestorben ist, der Hofnarr.
Jedem Kaufhausdirektor, jedem Mann als Topmanagement sollte ein Intellektueller zur Seite gestellt werden, der in einem Büro seinen Beschäftigungen nachgeht usw.

24.5.68
Da ich jetzt hoffentlich in der Lage bin, regelmäßig ein Tagebuch zu führen, sollte ich eigentlich wieder einmal die hübsche Angewohnheit meiner Impuls-Gedichte aufnehmen und fortführen, unter Umständen auch noch formal üben in Versformen.
Die Gestalt des Hofnarren.
Das Bild der Entwicklung der Gesichter müsste eigentlich mit dem Embryo anfangen. Eigentlich habe ich außer Max noch niemand Ebenbürtigen getroffen.

25.5.68Walter Reinhardt Tagebücher 1968

Einige Ideen von Piranesi empfangen.
Hausgrundrisse (Zeichen) als Grundlage für ein Mandala verwenden
Monotypie.
Grundlage:      Bühnenarchitektur
                       stark perspektivisch
                       sämtliche Bauten und ähnl. verwendbar von alten Bildern.
Mittel:   Licht= willkürlich
                       von mehreren Quellen. 3-4
                       konzentr. Licht, nach oben scharfe Schatten.
                       Gruppen – Pfeile
anfangs moluskenhafte Gruppe
abzielend
Burgmauer + Quader + Sessel

Bauhausausstellung
Systematisch – morphologisch, Vom Einzeller zum Menschen zeichnen.
Dürers Buch der Messungen
Bauhaustheorie
Figurales Zeichnen in Kreisen, Dreiecken und WellenWalter Reinhardt Tagebücher 1968
Linien waager und senkr.
Hell-Dunkel-Studien.
Rhythmus-Studien alter Meister.
Formenanalyse alter Meister
Materie-Studien
Schaukasten anlegen von den profansten Gegenständen
Affinität d. Farbe zur Form, Affinität von Farbe zur Linie
Balance farbiger Flächen

Winkelerfahrungen
Punkte + Balken
geordnet + ungeordnet
Mache „räuml. Studien mit surrealem Gehalt“ (Bühne)
Vibrationsgeschichte
von in nach außen gleichen Formen – versch. Farben
Collagen = Schnitte, den Rest ergänzen
Bühnenbilder + Architektur
………….
Bühnenbilder mit kollagierten Figuren
Spiele aus Formen  Farbe + LichtWalter Reinhardt Tagebücher 1968

Schlemmer
Figuren als Grundlage des figürlichen räumlichen Zeichnens.
Farbe kalt-warm – Kontrast
Farbe an sich
Farbe Komplementär-Kontrast
Farbe simultan-Kontrast
Hell-Dunkel

Kinetische Lichtstudien. Bühnenbilder mit zerknittertem Zeitungspapier mit Schatten und zerschnittenen Schemen (?)
Schaufenster-Deko
Rasterbilder
Skyline
Strukturen
Umschlagsentwurf
Plakat
Schrift

25.5.68
Meine Herren!
Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.
Was hält mich eigentlich noch in München. Ich habe soviel gelernt und gesehen. Soll ich es ....??
Das Bild mit dem fragenden Auge.

26.5.68
Auf die Frage Radma Symbaya – Geht es um Wiedergeburt?

Beim I Ging ist es wesentlich, die richtigen Fragen zu formulieren.
Man muss seine geheimsten Untergründe erforschen, denn Fragen sind nichts mehr als vorläufige Antworten auf ein Problem. Das ist auch der Fehler von der Dialektik. Es gibt auch keine These und Antithese, sondern nur das Beobachten der Reaktionen. Reaktionen kann man analytisch betrachten – das haben wir nun genauso lange getan wie die Tibeter und Yogis dieselbe Geschichte durch geistige Techniken.
Die Dialektik ist eine Sackgasse wie der Tantrismus - natürlich nur von meinen Grenzen aus gesehen.


27.5.68
Heute etwas mehr in die Mikrowelt geschaut. Das Proton oder Elektron sind Energieverdichtungen einer Grundidee, damit ist bewiesen, dass das Kamel durchs Nadelöhr geht. (...) Das Möbiusproblem. All ist eine Möbiussphäre.
Das Gedicht mit dem Honig nicht vergessen.

Zurück zum Möbiusproblem.
In der Form bleibt der Energiehaushalt konstant und überall, wo man steht, ist Anfang + Ende.

30.5.61
So etwas Ähnliches will ich malen, die Soul der Moleküle und Atomketten.
Dass dies durchaus nicht symmetrisch oder auch asymmetrisch sein muss, ist nur wenigen Leuten klar.

2.6.68Walter Reinhardt Tagebücher 1968
Pastell versuchen, torsohafte Skizzen und dann ausmalen.
Roussel etc., plastische Hell-Dunkel-Effekte.

Lewis Caroll, dem eigenen selbst etwas näher gekommen in den letzten 8 Jahren.

3.6.68
Heute fertiggestellt.
Das Feuer der blassen Schatten.
Ich muss mich langsam mit der Maltechnik der Chinesen beschäftigen.
Ganz vergessen.
Außerdem in Öl + Wachsmalkreide. Und eine Tuschausrüstung kaufen.
Ich muss mir in Zukunft jede Bildidee notieren. Deutlicher schreiben.

Gute Idee mit Anatomiezeichnen beginnen.

(...) Röntgenbilder malen.

Ein Gesicht beim Sterben.

Es folgen Skizzen mit Gesichtern mit Vergleichen und Assoziationen (Sterben, Tod, aber auch Gesicht „wie ein Rathaus“, beim „kleinen Tod“  untertitelt)

5.6.68
Gute Idee, mit Anatomiezeichnen begonnen.
Die Kunstfans wünschen sich Gesichter wie im kleinen Tod. Sie suchen den Freund und meinen den Tod.
Bilder wie im Kleinen Tod werden von allen gemalt, weil die Leute es wünschen.
Ein kleiner Tod ist einfach, man raucht, raucht etwas Hasch und schon ist man ein wenig gestorben. Dabei bedrücken mich die Riemannschen Flächen und auch sonst stimmt nicht alles.
Warum das alles? Ein Fragezeichen fällt schwer in dieser Zeit. Eine Riemannsche Fläche fällt schwer. Cantor + Wittgenstein fällt ebenso schwer wie J. S. Bach. Archimedes ist völlig unverständlich wie Euklid.

Ein wenig sollte man den feinen Blasen von Getränken lauschen.
Nicht zu vergessen den zarten Bestandteil der Neuen Margarine.
Ein Champagner-Weizenbier ist nicht ganz ohne Fehl.
Desgleichen die frische Luft, die jetzt in mein Zimmer strömt.
          Aus.

Aber noch glühen die Lampen des  Verstärker-Verstärkers, der die Töne meiner verblassenden Erinnerung durch den Raum trägt – nur noch schwach (...)
Ein leichter Tod.
Tod auf der Bühne und daneben.
Und am Morgen wachst du auf (...)

6.6.68
Tapetenbücher – Japantapeten

7.6.68
Gestern hat mir Ingo die Geschichte der Prinzessin erzählt.
Es war einmal eine schöne Prinzessin, die war mit keinem der Männer, die um sie warben, zufrieden. Eines Tages kam ein Prinz, dem stellte sie folgende Aufgabe: In einem Saal sind zwei Türen, hinter einer Tür wartet die Prinzessin, hinter der anderen der Henker. Um die Aufgabe zu erleichtern, steht vor jeder Tür ein Wächter, der eine lügt immer, der andere sagt immer die Wahrheit!

Es ist schon manchmal bitter, wenn man normal gut auf sich persönlich bezieht.

Wie stellt man einen Moebiusraum dar?

Ich muss unbedingt  eine Zusammenfassung aller Anregungen bringen.

7.6.68
Heute Abend die Geschichte mit der Neuerfindung von Körpern erfunden.
An sich habe ich sie nicht erfunden, sondern immer ausgeführt.
Wenn ich ein Mädchen streichele, dann zeichne ich mit meiner Hand die Formen der Natur  nach. Lange Zeit wusste ich das nicht ...
Dann entstehen über dem Körper Wellen von Grau und Grün, Rot und Blau etc. (...)

8.6.68  4.15 pmWalter Reinhardt Tagebücher 1968
Es fällt schwer. Aber eine Ausgleichsgymnastik wie von Sportlehrer Herpe ist wahrscheinlich das Beste. Ich muss mir auch einen genauen Plan ausarbeiten.

1. Schütteln
2. 5 x Armstrecken
3. 5 x Rumpfbeugen
4. 5 x Liegestütze
5. 5x (Zeichnung)
6. Gesamtes Ausstrecken des Körpers
7. Asana nach Plan o.  Sportart. + meditieren.

Auch sollte ich, wenn ich wach bin, wach sein und wenn ich müde bin, sollte ich schlafen.  Überhaupt sollte ich mich auf meine zukünftigen Aufgaben vorbereiten, das heißt innerlich ausgeglichen werden und mögl. bald Notenlesen lernen.

Das Fatale an meiner Situation ist, dass ich schon viele Pläne in meinem Leben gemacht  habe, diese auch zeitweise ausgeführt habe und die guten Vorsätze dann langsam versanden ließ. Der Grund für mein widersinniges Verhalten, nun endlich überhaupt keine Pläne mehr zu machen.
Wenn sich alle Pläne ... ? Es muss sich etwas ändern.

Ich muss demnächst anfangen mit den Monotypien und die Frottagetechnik ausbauen. Außerdem die Ideensammlung an den Beginn des Buches legen.

Das Moebius-Problem
Kernverdichtungen in Moebiusweise malen.

12.6.68
Die zwei gestern Abend haben mich mit ihrem Zeug ganz schön abgetötet.
Mit den zwei Leuten über das Problem der Prinzessin nachgedacht und dabei bin ich darauf gekommen, dass das Yin-Yang Zeichen ein ähnliches Problem ist wie die Moebiusschleife.

13.6.68
Habe mich außerdem mit Frottagen mit Tri beschäftigt. Es ist irgendwie kein Mittel für mich, aber besser, ich beherrsche dieses Mittel nicht. Dann schon besser Collage.
Die baummäßige Vorstellung des Yin-und-Yang-Symbols fällt mir sehr schwer.

Mehr arbeiten und dabei bleiben.

13.6.68
Mir fällt gerade ein, warum ich 1941–43 so gerne bei Biermanns gegessen und mich aufgehalten habe. Es war ein Familienersatz für das verlorengegangene Familienleben seit 1940, und da habe ich die Vorteile des Parasitismus kennengelernt. Ich habe bei Biermanns ein Familienleben mit allen Rechten und ohne Pflichten geführt.

0.50 Uhr          heute gegessen         1/2 Pizza 1. -
                                                           1   Pizza 2.30 (unnötig)
                                                          2   Bier   1.20
gut.
In Zukunft alle unnötigen Ausgaben notieren!

Lichtstudien über Stadium in verschiedenen Höhen
Lichtstudien über Körper
Das heißt Projektionen von Fläche auf Fläche in versch. Wiederholung.

17.6.68Walter Reinhardt Tagebücher 1968
Die Schatten der Kugel.
E. war hier. Ich mag sie an sich ganz gerne. Hat aber auch Probleme besonderer Art. Außerdem sehne ich mich wieder einmal danach, verliebt zu sein.

19.6.68
Ich habe mal über das Problem Erika, Gisela, Taubchen, Barbara nachgedacht. Vor allem über E., und ich finde es sehr lustig herauszubekommen, in wieweit ich mich getäuscht habe. Aber es ist das immer so eine Sache mit Prognosen, Hypothesen. Soweit ich das beurteile, trauern diese Kinder ihrer verlorenen Jugend nach, das ist der Grund, warum sie trampen und sich benehmen und kleiden wie Teenager. Sie distanzieren sich von den verheirateten Kameraden, wo sie Angst haben, ihre Jugend zu verlieren usw. Dabei wollen sie aber nichts mit der Generation zu tun haben, der sie sich hingezogen fühlen – nämlich den 16-19-Jährigen. Noch nicht einmal zum eigenen Alter, so ca. 5-15 Jahre älter, weil dann sind sie in jedem Fall noch die Jüngere.
Es ist eine nette Angewohnheit von L. Caroll, Kritiken und Beschwerden in der aufgebauschten  Form des Märchens dazubieten. Völlig unwahrscheinliche Geschichten erfinden, denen ein sehr naheliegendes Problem zugrunde liegt.

Auf die Frage nach E.

Wenn man sich treiben lässt, kommt man zusammen und geht wieder auseinander, wie es der Tag fügt. Wenn man dagegen ein dauerhaftes Ende ins Auge fasst, so wird es einem gelingen, die Klippen zu umgehen, die näheren Beziehungen der Menschen untereinander entgegenstehen.

21.6.68Walter Reinhardt Tagebücher 1968
Mir geht es also schon wesentlich besser. Habe eine ungewöhnlich starke Grippe gehabt und kann nun verstehen, dass jemand an Grippe sterben kann.
Die drei Zeichnungen sind solche Fiebererzeugnisse. Das Antibiotikum scheint der Infektion im Hals den Rest gegeben haben. Heute Abend sehr vorsichtig. Danach hat sich mein Gewicht um ca. 3-5 kg vermindert. Ich muss jetzt den Vorsprung unbedingt einhalten. Außerdem würde ich vornehmen, das Rauchen einzustellen.

21.6.68
Heute Abend Schwabingerbräu und dann Essen. Anschließend muss irgendetwas geschehen.  Ich muss jetzt mir wirklich langsam einen Laden anschaffen, in dem ich wirken kann.

21.6.68, 3.00 p.m.
ich freue mich schon sehr auf Erika und werde wahrscheinlich enttäuscht, weil ich mich zu sehr freue. So etwas pflegt bei mir sehr kontinuierlich und regelmäßig zu gehen. Außerdem habe ich zuviel AN1 genommen. Nun bin ich gespannt, wie alles verläuft.

2.7.68
Am 1. zurückgekommen.
War sehr schön bis auf das, was ich vorher schon gespürt habe. Erika hat sich überhaupt nicht sehen lassen. Was weiß der Henker, da kenn sich einer aus. Inge etwas näher kennen gelernt.  Bei ihr zu Hause einen sehr schönen ruhigen Tag verbracht. Gemalt, nächstes Mal muss ich die Gitarre und das Malzeug mitnehmen.
In Recklinghausen Ausstellung besucht. Außerdem habe ich den Swing – oder besser, er hat mich.

2.7.68
Vor allem darf ich nicht vergessen, das Tagebuch mitzunehmen.
Gestern habe ich Ingrid getroffen. dabei fiel mir auf, wie verschroben doch mein Verhalten zur Umwelt ist. Ich vermute in den Frauen immer etwas anderes, als tatsächlich drin ist. Irgendetwas, was mit Mutterbindung und Minne zu tun hat. Auch dass ich eine krankhafte Angst vor einer Bindung habe usw.

5.7.68
Habe das Bild Goldvogel und Silberfrau angefangen.
Ich muss mir ein Diktiergerät kaufen. Außerdem muss ich zu jedem Bild eine Geschichte schreiben.

6.7.68
Heute morgen Anruf von Don, der gehört eher zu Hanni als Hanni dorthin ...
Manchmal komme ich mir wie Prof. Unrat vor in den PN.
Manches Mal fühle ich mich in diesen Zwischen-Situationen so unwohl, dass ich mich in Wunschträume eines Hotels flüchte. Außerdem öffne ich keine Post usw., schon schlimm mit mir. Jetzt wollte ich um 11.00 Uhr aufstehen und spazieren gehen, jetzt ist es 4.00 Uhr und ich bin noch müde.
Hatte diesen Traum von den Fischen. Riesengroße Fische im Fluss, die eine Rolltreppe hinunter müssen.
Ich ging mit einem Mädchen spazieren.
Ebenso erinnere ich mich des Traums mit dem Schiffer, der den Fluss hinabfuhr und dabei teilweise über Grund lief, bis er ich weiß nicht wo ankam.

Die menschliche Lage ist, dass man es mit wilden, unzugänglichen Menschen zu tun hat. Man erreicht in diesem Fall, dass man sich in seinem Auftreten an die guten Sitten hält. Gute angenehme Formen des Auftretens führen auch reizbare Menschen zum Gehen.

8.7.68
Skizze
sphärische Figuren
geometr. kristalline Formen
evtl. Triebkraft und
Mikrobenbilder
Frottagen

Walter Reinhardt Tagebücher 1968

10.7.68
Traum!
Ich lag mit zwei Mädchen in einem Zimmer, auf einmal verwandelte sich das eine Mädchen in einen Hasen, das andere Mädchen in ein ähnliches Tier und sie lagen beide in einem Bett mit wahrscheinlich noch anderen Tieren. Der Hase legte sich auf das andere Tier und fing an zu rammeln. Und das andere Tier wusste damit nichts anzufangen, hatte aber Verständnis dafür.
Ich war in einem Raum der Halbmond und ich sollte die Fenster aufmachen, weil’s so warm war und eine Frau, die ich nicht sah, von der ich aber wusste, dass sie alt war und ein Kopftuch aufhatte, forderte mich dazu auf weil, Herr Baumann krank sei. Etwas später war ich auf der  Toilette und musste pischern. In dem Raum waren ein etwa 8-jähriger Junge, Herr Winkelmann und ein 14-30-jähriges Mädchen.
Ich saß auf dem Klo, da stürzte sich Herr W. auf mich und steckte seinen Schwanz zwischen meine Beine und pisste, der Junge pisste mir ins Gesicht, das war keine unangenehme Empfindung, ebenso Herr W., aber ich war empört über den Jungen und über Herrn W., so dachte ich, das macht man doch nicht.
Später war ich in der Küche Zeuge, wie der russische Kriegsgefangene Axel Klayszick sich empörte und dafür der Rest vom deutschen Kappo gerügt wurde.

Häuser malen erst Grundriss
dann Seitenriss
dann Ansicht
           Aufsicht

1. Naturstudien
2. Konstruktionstisch
    Architektur, Raum
3. Farbe + Form


11.7.68
Heute habe ich umgeräumt.
Es ist sehr wichtig, dass man alles so stellt, dass man alles zu jeder Zeit gut ohne großen Aufwand an körperlicher Betätigung erreichen kann.
Das Genie äußert, oder besser das Talent äußert sich immer in der Form der Systematik.  Systematik ist der Oberbegriff von Organisation.
Der Abendländer hat dafür seine Wissenschaft, Analyse vor allem. Der Inder und Japaner analysiert nicht die Natur, was ein Umweg ist, sondern sich selbst. Damit lernt er die Reaktion seiner Umwelt kennen und damit auch sich selbst.

Die einfachen Seelen werden diesen Krieg gewinnen.
Und ich bin froh, dazu eine einfache ursprüngliche Seele zu besitzen, das ist mein Talent und meine Sache.
Es ist jetzt nicht mehr so schwer, sie zu bewahren.

Redon: Drachenkampf
                 (Konturen und Tierentwurf, dann abstrahieren)

Augen in Form von Scala
Hausner. Langsam aber sicher muss ich mich von meinem Kleinbürgertum trennen und  großzügiger malen.
Kies, Sand etc., Kork + andere Materialien für Rahmen oder auf Gaze aufkleben und in Bild einarbeiten.
Bazon Gorilla Skull
Problem der mit dem Standort wechselnden Perspektiven. Barock, Romano

12.7.68Walter Reinhardt Tagebücher 1968
Öfters in den Postershop gehen und Anregungen holen. Das eine Poster: Stone Garden.
 
12.7.68
Brief an Ingrid
bezügl. „schon alte Frau“
und Onibaba Ariadne Phasiphae usw.
Habe eben die Eulen beim Leben betrachtet.
Sehr komisch, wie Menschliches oder besser wie sich Verhaltensregeln erkennen lassen.

Farbkombinationen wie Rotgold mit etwas Blau, etwa blauweiße Wellen mit Rot-Gold + Grün kombinieren, als Sujets werden Ritter, Hampelmann, Elefant aus Froschperspektive, Kinderbilder, Mickey Mouse, Bremer Stadtmusikant angeführt


14.7.68
Der Unterzeichnende lief letzthin ziellos die Leopoldsstr. entlang, da begab es sich, dass ihn an der Ecke Leopold- Hohenzollern ein junger Mann mit rötlichem Bart ansprach, der junge Mann trat aus der Tschibo-Filiale, hatte ein Streichholz im Mund und bat den Unterzeichnenden um Feuer.
Der Unterzeichner gab ihm dieses und verließ den Feuerbitter, nicht ohne ihm auf sein Dankeschön Bitteschön geantwortet zu haben.
 
Meiner Meinung nach kommen häufig surreale Situationen vor, aber oft fehlt es am Objekt oder am Schöpfer. Dies ist ein Fall, in dem beides zusammentraf.

15.7.68
Heute erster freier Tag PN und Band.
Feierabend es geht mit Macht dem (...) entgegen. Darum muss ich mir schnell eine Stelle besorgen. Damit ich die Schulden loswerde, ich muss mich dazu bewegen, jeden Tag zu üben. Wichtiger als Malen.

Außerdem muss ich mir die neueste Platte von dem Geld anschaffen können und eine gute Anlage anschaffen. Vor allem muss ich jetzt anfangen, Tunes zu üben und Notenlesen.
Im Malen scheint sich wieder einmal eine Stilwende abzuzeichnen.

16.7.68
Was ich zur Zeit alles höre, ist unfassbar.
Außerdem weiß ich genau, was ich arbeiten muss. Ich weiß, wo Lücken sind.
Atmen beim Spielen.
Ich muss mir das Buch von Escher besorgen.

17.7.68
Miete noch nicht bezahlt und Ingrid getroffen.

20.7. 68
Das Bild mit Bleistift
Ein meisterhaft ausgeführtes Stilleben aus Blumen und negativen Formen mit an der linken unteren Seite gefügten Gläsern und Besteck.

21.7.68
Ich mache mir Gedanken, wieso sich einzelne Menschen von Anfang an einordnen und andere später oder nie.
Man kann das von der Seite des Funktionellen zu klären versuchen, indem man Schizophrenie mit Stoffwechselstörungen in Zusammenhang bringt.
Es ist aber auch möglich, dass Seelen, die soweit von ihrer Herkunft und auch vom Physischen her, was sie gewohnt waren, entfernt geboren wurden, nicht Fuß fassen in dem neuen Instrument. Vielleicht auch eine Art Entschlackung.

Der Körper ist ein Entschlackungsinstrument der Seele.

1. Vor dem leeren Blatt meditieren
2. zuerst die Unterschrift und den Titel und dann das Bild beginnen, eine Form der Themastellung.
              o. K.

25.7.68
Als nächste Anschaffung steht an erster Stelle ein Diktiergerät in Westentaschenformat, auf das ich alles sprechen kann, was mir einfällt.
Ich war heute bei Ingrid und bin so traurig, ich weiß nicht warum.
Mutti hat mich angerufen.

26.7.68
Immer noch traurig.
Ich bin mir nicht darüber im Klaren, was Bestimmung ist und was ändern heißt.
Heute der Ärger mit Band, Gerhard wartete darauf, bis er abgeholt wurde. Scheißtyp.
Immer noch traurig.

Walter Reinhardt Tagebücher 1968


Tagebuch Nr. 2, 30.7.68 - 5.12.68


Überlegungen zu den Themen seiner Malkunst und ihrer Gestaltung beschäftigen Reinhardt im Sommer 1968. Er ist noch in München, hat keinen Job und sorgt sich um seine Schulden und seine unklare berufliche Situation. Ende August verlässt er die Stadt, stattet der Documenta in Kassel einen Besuch ab und begibt sich im September schließlich wieder an Bord eines Schiffes, um als Kellner nach Amerika auszuschiffen. Nach seiner Rückkehr im Oktober tritt er wenige Tage später die nächste Fahrt an. Auf seinen Reisen findet er Zeit zum Gitarrespielen und Skizzieren, auch zum Studium der Kalligraphie. Die Kunst in China und Japan fasziniert ihn. Die Ergebnisse des I Gings, das er sich täglich legt, beschäftigen ihn, mit ihrer Hilfe versucht er in die Zukunft zu blicken und erhofft Antworten auf seine Fragen – die sich ihm in auch in Amerika weiterhin stellen.

30.7.68
Als ich gestern morgen vom Rotkreuzplatz (?) mit der Straßenbahn nach Hause fuhr, fiel mir erst richtig der Sinn des Orientalischen Geschmeides, jenes der ganz  feinen Art, das am Hals hängt oder aus dem man auch Kleider machen könnte, auf, auf dem Hals eines Mädchens pulsierend eine dieser Schöpfungen. Man konnte jeden Pulsschlag sehen und wurde somit richtig gewahr, (...) ein Wesen aus Fleisch und Blut.
                       Seil = Dorn und Stachel
                       Inschrift, Nischen
                       Brücken – Treppen
                       Räder – Stufen

(...) Ich wollte Ruhmestaten und Ähnliches malen, wie es die alten Buchmaler getan haben. Überhaupt ist das ein Gebiet, auf dem es die Europäer sehr weit gebracht haben. Sie haben darin fast die Anmut und Perfektion der chinesischen Kalligraphie erreicht.
Überhaupt ist es mit der Kalligraphie z. B. der orientalischen Malerei (Zen) in Europa ein seltsames Verhältnis geworden.
Eine Mischung von Geschmacklosigkeit vermischt mit brutaler Effekthascherei, dazu Attribute, sich beziehend auf die besten Werke von K. O. Götze und Mathieu.
Sollte ich jemals Geld haben, würde ich meine Bilder drucken lassen und dazu phantastische Geschichten schreiben.
Auch sollte ich mir eine Märchensammlung zulegen und dazu evtl. Illustrationen. Auch sollte ich an die Variationen des I Ging denken. Ebenso die Sternenbilder in Variationen.
Man sollte Klischees miteinander kombinieren und den Rest ergänzen.
Collagen mit Teil eines Gesichts und das erst ergänzen, um die Vibrationen zu ergänzen.
Auch sollte ich mir jetzt wirklich die Ideensammlung als jederzeit einsehbare Sammlung anlegen.

Es fällt mir schwer, an eine Wiedergeburt in realem Sinne zu glauben, wenn man sich immer mehr in die Fruchtbarkeit des Alls eingebettet fühlt. Aber letzthin stellte ich fest, dass es wenige Menschen gibt, die für ihre Möglichkeit die gemäße Form gefunden haben.

Ihre Form, glaubte ich, hätten einige meiner Freunde und ich gefunden.
Aber das war Täuschung. Ich gehe noch viel zu sehr von einem zentralen Punkt aus, von dem aus ich die Welt betrachte. Dabei hat jede Form so viele Gesichtspunkte, wie man Standpunkte annehmen kann, und zwar mikro- wie makrokosmische. Diese Standpunkte stehen miteinander in stetigem Austausch.
Es heißt damit letztendlich, dass damit der eigenen Einmaligkeit endgültig der Garaus gemacht wird.
Ich konstruierte vorhin eine Geschichte ohne Höhepunkte, wie es das Leben an sich ist. Denn ob ein Ablauf in größerem oder kleineren Maße studiert wird, es ist bedeutungslos im Ablauf als Gesamtgeschehen.
Es sind dies bekannte Tatsachen, die aber dank ihres so ablehnenden Charakters immer wieder der Verdrängung ausgesetzt werden.
Die Menschen finden immer groteskere Mittel, dieser Verinnerlichung dieses Lebenserkennens zu entgehen. Märchen und Romane sind nur Extrakte dieses täglichen Geschehens.

3.8.68
Gestern abend wieder Streit mit Don. Bin froh, wenn ich ihn nicht mehr sehe.
Habe auch etwas Angst vor ihm. Obwohl ich ihm körperlich überlegen bin, er ist so schnell und erfahren im Raufen und ich werde noch ein paar Zähne los. Bin froh, wenn ich alle Schulden bezahlt habe. Einmal muss ich es aber doch versuchen.

5.8.68
Auf jeden Fall darf ich den Gerhard nicht vergessen.
Heute, wo ich den Karren das letzte Mal fahre, kommt doch die (...) und Mangelanzeige. Das nenne ich Pech. Hoffentlich komme ich noch weg. Wenn ich erst mal fahre, dann ist alles gut. Mal sehen, was wird. Es geht nichts über einen guten Zufall. Wenn, ja wenn. Bin ich froh, wenn ich aus dem Schlamassel raus bin. Aber wenn es zu Komplikationen kommen sollte, dann sollte man sich wie ein verständiger Jünger Buddhas benehmen und alle Klagen über sich ergehen lassen. Wie schrecklich sind doch die Psychologen. Sie wissen nichts, aber auch nichts über die Seele und ähnliche Bezirke. und versuchen, Vertrauen zu erwecken, damit man ihnen die geheimen Untergründe anvertraut, und anschließend versuchen sie einen dann (..) umzumodeln, bis alle Leute ein Staat und alle Völker einer bestimmten Norm entsprechen. Es gibt kein Verbrechen mehr und keine Geld, nur den zwischen männlich und weiblich und den (...) gerne die Herren Psychologen auf sich nehmen, Scheißtypen. So etwas wie Rilke und Hauptmann.

Jetzt muss ich mir noch eine Stunde die Zeit vertreiben, zu blöd, dass mir bei wichtigen Sachen immer ein Fehler unterlaufen muss. Wie heute. Es wäre garantiert nichts passiert, wenn nicht dieser eine Bulle hinter mir hergefahren wäre und ich auf ihn Rücksicht genommen hätte, das soll man nur tun, wenn man absolut reines Gewissen hat. Weil ich leichtsinnig war, hat er sich über mich geärgert, und hat mir sofort einen ehrgeizigen Wachtmeister auf die Fersen geschickt. Denn es war auffällig, wie sich gleich 2 Bullen um mich bemühten. Hoffentlich ist damit ihr Interesse erloschen, sonst holen die mich das nächste Mal von Bord. Bidl fängt es an zu regnen und ich muss immer noch 1 Stunde warten. Die Schwalben fliegen tief und nun ist es aus mit der frischen Luft. Ob ich das schaffe als Chef? Erst mal auf einem Dampfer und mit ein bisschen Dampf lässt sich das schon machen. Den Schnurrbart etwas an den Seiten kürzen und die Koteletten kürzer. Hoffentlich verdiene ich gut. Ich verblöde langsam. 36 Jahre alt und immer noch alles offen.

6.8.68
1. Kfz-Abmeldung
2. Waldvogel 2
(3. durchgestrichen)
4. Dresdner Bank
5. Aachen Leipziger
6. Stadtbibliothek
7. Stadtwerke
8. Fernmeldeamt
9. Süd. Finanzen
10. Dokouphil
11. Pol. Abmeldung

7.8.68    0.10
Braunschweig Hauptbahnhof

Ich bin im Augenblick so geil, dass ich alles nehmen würde.
Zumeist ist es jedoch so, dass ich es mir im letzten Augenblick überlege und wieder abspringe, entweder ist sie nicht gut genug oder ich denke an die Folgeerscheinungen:
„There will never be another you.“
Anke wird’s nicht glauben und suchen. Was habe ich sie …. oder ich bin ihr vor der Rückkehr zuvorgekommen. Und nun sitzt sie weinend in München.
Aber auf jeden Fall bin ich sicher, dass sie somehow herauskriegt, wo ich bin – und dann sehen wir weiter.
Charlie klang sehr resigniert am Telefon, aber es ist auch zum Teil seine Schuld, und ich habe wirklich den besseren Deal genommen. Hoffentlich fängt er jetzt an zu denken, wie man das eigentlich damals, das Gespräch mit dem Kellner ... und das soll mir eine Lehre sein (...)?

7.8.68
Ich möchte gern Gesichter zeichnen, nur Gesichter, das ist schon eine Aufgabe.
Grünen Schleim gesehen. Schlimm, nichts gefühlt.

Auf den folgenden Seiten widmet sich Reinhardt der Übung  japanischer Schriftzeichen, deren Bedeutung er jeweils in großen Druckbuchstaben hinzufügt. Aus einer Eintragung vom 7. August geht hervor, dass er München verlassen hat, ohne sich von Freundin und Freunden zu verabschieden – und sie offenbar auch nicht wissen, wo er ist und was er plant.

14.8.68
Nun ist so ziemlich alles beisammen an Sadismus, was passieren kann.
Bald fliege ich aus der Wohnung raus, die Bank pfändet, der Wechsel platzt, dazu noch heute der Unfall und der Fuß ... außerdem hat mich gestern der Zahn versetzt, außerdem noch die Verlade vom Charlie nagt.

15.8.68
Und außerdem bin ich mir überhaupt nicht im Klaren, schon wieder mal, was ich machen soll. Am liebsten möchte ich wieder zur See fahren oder woanders hin, also Flucht, auf der anderen Seite möchte ich in München bleiben und mir etwas aufbauen,  zumal ich jetzt die Chance habe, wirklich etwas von Grund auf zu lernen. Natürlich habe ich Angst vor der vielen Arbeit. An sich ist das alles kein Grund zum Zusammenbruch. Wohnung
behalten. Und dann die Schulden und dann sparen und üben und malen.

Walter Reinhardt Tagebücher 1968Walter Reinhardt Tagebücher 1968Walter Reinhardt Tagebücher 1968

18.8.68
Man soll sich seiner ganzen Stärke bewusst werden.

26.8.68Walter Reinhardt Tagebücher 1968
Ich habe soeben die Message erhalten, abzuhauen und schnell ...

27.8.68
... und bin schon in Kassel und schau mir zum Abschied die Documenta an.
Anschließend muss ich Mutti anrufen und meinen Kram abholen und dann nichts wie weg. Rom, Paris ...

Auf der documenta beeindrucken ihn, stichwortartigen Notizen zufolge, die Collagen von Jiří Kolář, ebenso eine „wunderbare Assemblage“ von Cornell, Werke von Arakawa, Shusaku, ein Zeichenblatt eines Architekten, in dem nur die Gegenstände eingeschrieben sind, Kitag und Beckmann. Er meint, „Ich verstehe jetzt zu hören und auf die geringsten Strömungen zu reagieren.“

28.8.68

Die in der Ausstellung gezeigten Stücke sind alle so gut, dass ich keines schlecht finde. Im Verhältnis zu Recklinghausen, wo ich noch gut und schlecht empfand. Suizid Tower von Wesselmann. Ich bin froh, daß ich das alles hinter mir habe, mein Reinfall mit Tellner war der Rest, (...) Das Projekt des Buches nicht vergessen. Und in Zukunft fein arbeiten und nur gutes Material verwenden.

29.8.68Walter Reinhardt Tagebücher 1968
... und schon wieder in Lebenstedt.
Ich habe mir gerade die Geschichte mit der Kopiererei überlegt. Kopieren ist gut, weil es den Blick für das Wesentliche und die Proportionen schärft. Darüber hinaus lernt man den Menschen und sich selbst genau anzusehen. Und außerdem lernst durch den anderen Malen.“

31.8.68
Es kommt nicht darauf an, wie ein Zeichen aussieht, sondern was es bedeutet. Habe vorhin Chakra angerufen und gefragt über alles Mögliche ...
Als Fazit meines sehr schnellen Handelns muss ich immer noch sagen, es war gut.
Wohl habe ich eine Menge Verbindungen damit verlassen, aber es ist, wie wenn man eine neue Schwelle überschreitet, dann soll man das Alte auch endgültig hinter sich lassen. Nachdem ich mich jahrelang nur auf meine Verbindungen verlassen habe, muss ich nun langsam hinaus in die kühle Luft der Selbstbehauptung.
Nachdem ich jahrelang meine Waffen dafür geschliffen habe, muss ich nun fern von allen Fremden und Protegés diese Waffen vollenden, da hilft Meditieren alleine nicht, sondern man muss auch arbeiten und zwar in aller Öffentlichkeit.
Zumindest bin ich jetzt dem Problem der Plastik auf der Spur. Ebenso wird es nicht lange dauern, dann zieht der Bass nach.

Auf einer Tagebuchseite zieht Walter eine Art Bilanz seiner persönlichen Beziehungen in München: Er führt alle Personen, die ihm wichtig sind, geordnet in zusammengehörende Personenkreise auf, geordnet nach beruflicher Beziehung und nach Wohnortadresse.

München, Personenkreise
Neckermann
Königsberger, Stephan, Waschkeit, Helmrich, Frieser, v. Pechmann, Manuela, Baransky, u. Dopsi, Dahlant Friedrich,  Heide + Uwe Lausen, Anneliese + Helma, Tina

Kaiserstr. 25
Julius, Doris, Max, Gerlach, Henneberg, Mühl, Hartm. Barz, Heider, Knauf, Perlinger, Saro, Jörg, Lengenfeld, Lothar Bart, Maith, Charlie, Etzel, Otto etc.

Orlamstr. 11
Anke, Mango, Ingrid Kortlander

Siegfriedstr. 18
Booker Evrin, Jimmy Wood, Mal Waldron, Carter Jim, Herr Brauer, Felix.

So langsam werde ich wieder unruhig, weil ich hinaus muss. Auch spiele ich mit dem Gedanken „zurück zur Band“, aber das ist witzlos. Ich muss mehr lernen und verschwinden.

3.9.68
Bezüglich des Bassspielens: Ich muss auf der Gitarre jede Art von Melodie spielen, erstens aus dem Gehör und später auch nach Noten. Auf jeden Fall muss ich Intervalle hören lernen. Ebenso ist es mit dem Malen. Ich muss Portraits und Gegenstände mir genau ansehen und dann aus dem Gedächtnis wiedergeben können. Es ist wie bei der Geschichte von dem chinesischen Maler:

 „Yin Li“ war bereits ein berühmter Maler und einer der hoffnungsvollsten Anwärter auf die Anstellung als Hofmaler. Er war 36 Jahre alt und hatte sich durch fleißiges Kopieren alter Meister einen Namen erworben.
Eines Tages legte er zum Erstaunen seiner Umgebung die Tracht eines Malers ab und tauschte sie mit dem kargen Gewand eines buddhistischen Pilgers. Er entzog sich der Betrachtung seiner Umgebung durch eine lange Pilgerreise. Jahre danach tauchte er wieder auf und war seltsam verändert. Eine Portraitsitzung gestaltete sich schließlich so: Der Auftraggeber wurde zu einer Tasse Tee des Nachmittags gebeten, während der Maler sich mit Ihm unterhielt, bereitete er nach traditioneller Art den Tee, anschließend mischte er eine Farbe an und suchte ein geeignetes Stück Papier. Während dieser Zeit waren über drei Stunden vergangen. Der Gast war in dieser Zeit unruhig geworden und gerade, als der Maler bereit für eine Skizze war, stand der Auftraggeber auf und musste fort. Anschließend malte der Maler das Bild fertig in einem Zug.

7.9.68
Und was macht ein Mathematiker?
Er erinnert so lange, bis er ein „brauchbares“ Ergebnis findet. Die Faktierung aber, eher entfernt sind, deswegen immer zwei verhandeln.
Der Mensch kann einfach nicht ein Problem so stehen lassen, wie es ist. Der Weg, der in diese Richtung führt, ist nämlich nicht einmal interessant.

8.9.68
Fazit. Das wiederholt abgründig, was du wahrhaftig bist. So hast du im Herze gelingen und was du tust – Erfolg.
Es verliert durch nichts seine wesentliche Art. Wahrhaftigkeit bewirkt, dass man in schwierigen Verhältnissen die Lage durchdringt.

16.9.68
Bobby war sehr nett, und leicht zu unterschätzen. Die Frau sehr hübsch und temperamentvoll.
I. Cortiga war undiszipliniert, wild und swingt. Dete Benton Band diszipliniert, swingend und kultiviert.

29.9.68
Ich muss mich mit Bobby besprechen. Es ist eine lautere und gute Stelle. Vor allem über P.R., vielleicht kann er mir einen Rat geben, denn die Übungen kommen gut voran.
Es ist sehr lustig, wie sich die Menschen wie Rolf etc. ihre Vorbilder suchen. Heinz und Käse Schretzmann etc. K. war mehr Mann und Heinz ist impulsiv und genauso krank. Ich muss mir mein zukünftiges Leben genau überlegen, damit nicht wieder so ein Urlaub vorkommt wie gehabt. Die Party mit Heinz und Rolf. Es war schon beschissen.

Ich bin mir nicht sicher, ob dies alles wasted time ist.
Wieder einmal alles vergeblich.

29.9.68
Das Erregendste an dem Spiegel-Artikel über den Schlaf ist, dass Säuglinge und Neugeborene träumen und zwar intensiv. Man könnte daher verschiedene Theorien entwickeln.

30.9.68
Während der Buddhismus die Ruhe erstrebt durch Abklingen jeglicher Bewegung im Nirwana, ist der Standpunkt des Buchs der Wandlung, dass Ruhe nur ein polarer Zustand ist, der als seine Ergänzung auch die Bewegung hat.
Der Schlaf wird erforscht!

30.9.68
Bi Yän Lu, S. 89/88
... was ist ein Meister? Auch ich bin ein Meister, aber wo ist mein Guru?
Logik: Da ich ein Meister bin, bin ich ein Guru, aber ein Meister muss einen Guru haben, der eines natürlichen Todes stirbt.

Im Oktober begibt sich Reinhardt wieder als Bordkellner auf ein Schiff und findet dabei auch etwas Zeit, sich seiner Musik, dem Bass- und Gitarrespielen, dem Malen, der Entwicklung einer Filmidee und Gedanken über seine berufliche Zukunft – wie gewohnt unterstützt durch das Legen von I Gings – zu widmen. Er schmiedet Pläne für ein Leben in Kanada, überlegt, ob er dort die Idee mit dem Hotel besser verwirklichen kann. Auf dieser Reise kommt es jedoch zu keiner Begegnung oder Erfahrung, die ihn in dieser Hinsicht näher beeinflusst.
Walter Reinhardt Tagebücher 1968
9.10.68
Da ist irgendwas  am Arbeiten, das lässt mich an der Gitarre und am Bass weiterkommen. Auf diesem Weg muss ich bleiben, günstig wäre es nur noch, wenn ich eine Kabine für mich allein hätte.

15.10.68
Ergründe das Orakel noch mal.
Wenn man den Anschluss verpasst hat und nun immer zögert, vor voller und wahrer Hingabe sich scheuend, so wird man zu spät seinen Fehler bereuen.

(Abbildung: Porträt, S. 144, ca. 15.10.68)

Eine herrliche Farbkombination, dieses Rosa mit dem blassen Blau.
Ich muss das I Ging studieren.
Warum muss ich immer nach einer ausdrücklichen (?) Stellung Ausschau halten? Auf der anderen Seite – warum behandeln mich die Leute als etwas (...)
Trotzdem – das Porträt ist schön.
 
17.10.68
All about Zen
Intensiv leben heißt Glück. haben. Pechvögel leben nicht intensiv.
Intensiv leben heißt Glüvk haben. Meine Kunst (..) wird mir bewußt, wie gelebt wird.
Buddha – Nirvana.

Vancouver muss schön sein.
Außerdem das Instrument mit der Kugel. Alles, was man braucht, ist Phantasie. Es ist ein seltsames Phänomen mit den Schwingungen. Was kann man alles für Töne hervorzaubern mit alltäglichen Gegenständen. Alles Wissen der Menschheit in einem Computer. Was für Kombinationsmöglichkeiten!

Und außerdem "Sister Longleg"!
Aber ich glaube, dass ich in Kanada mein Hotel eher verwirklichen kann als in Europa. Auf der anderen Seite – wie soll ich so schnell zu Geld kommen?
Es ist so schwer, konsequent zu sein!

19.10.68
Die Idee von Clarissa, den lebenden Menschen als Kunstwerk um Kunstwerk.

Filmidee.
Ein schwarz ausgekleideter Raum mit möglichst vielen Variationen von Schwarz in Stoff + Farbe,  Schaumgummi und Holz etc.
Ein schwarz gekleideter Mann oder Mensch baut aus Stäben, die mit Leuchtfarbe bestrichen sind, geometrische Figuren, und bemalt dann später die Wände mit weißer Leuchtfarbe mit Szenen aus seinem Leben.
Die Szenen werden Wirklichkeit und verblassen dann wieder zu der schwarzen Höhle. Ende des Films zeigt, wie der Wind in große Wellen Riefen bläst, ebenso Sand + Schnee, und bewegtes Laub und Reisig in den Wind fliegt.
Der einfach betonierte Raum mit Licht + Menschen als Tempel.

20.10.68
Obwohl ich gute Fortschritte auf der Gitarre mache, sollte ich mich mehr auf fertige Kompositionen konzentrieren. Mit der Schrift hat es etwas sehr Geheimnisvolles auf sich, besser gesagt mit der Niederschrift. Man kann völlig bedeutungslose Sätze niederschreiben und man wird in diesem Zusammenhang an Situationen erinnert, die durch nichts aus dem Zusammenhang mit dem Geschriebenen für einen Außenstehenden hervorgehen.
Dies alleine ist genügende Rechtfertigung für ein Tagebuch. Noch geheimnisvoller ist ein Bild.

22.10.68
Ich stellte soeben fest, dass es sehr leicht ist, ein Bild von jemandem zu malen – jedoch sehr schwer, eins aus die Luft zu greifen.

Einige der Skizzen auf den folgenden Seiten beziehen sich auf Symbole aus dem I Ging, die er mit den jeweiligen Bedeutungen versieht, sowie auf Skizzen aus dem Buch „Der Senfkorngarten“, ein Standard-Lehrwerk über das Erlernen der chinesischen Tusche-Malerei. Bei Betrachtungen über die Spirale sucht Reinhardt die Verbindung zu Theorien von Fred Hoyle über Quasare, ihre Positionierung auf einen fünfachsigen Koordinatenkreuz, auf den Übergangsstufen im Moebiusband. Seine Überlegungen drehen sich um ein konzentriertes, systematisches Üben auf den Instrumenten, daneben gilt sein Interesse weiter der Reflektion über Malerei. Insbesondere die chinesische Malerei, ihre Formensprache und die enge Verbindung mit der Schrift veranlassen ihn immer wieder, sich Gedanken über die Unterschiede zwischen der europäischen und der asiatischen Malerei zu machen, deren Wesen er ergründen will – am liebsten vor Ort in China und Japan.

(Abbildung 10.11.68, S. 183)
 
Was ist untrennbar?
Ist etwas trennbar?
Ist nicht trennen eine spezifisch menschliche Eigenschaft?
Dorge heißt Zusammenfügen.

23.10.68
Das Buch vom Sernfkorngarten gekauft.
Die Symbolsprache in China hat auf mich eine Handlungskraft und ist mir irgendwie bekannt. Sollte ich doch noch hinter das Geheimnis der Existenz kommen?

25.10.68
Wenn ich mir das Buch vom Senfkorngarten anschaue, dann muss ich mich an meinen ersten Trip erinnern. Nach den Jahren war es sehr schön. Und das  Buch vom Senfkorngarten ist irgendwie der Schlüssel dazu.
In Zukunft werde ich nur noch an dem Bild malen und auch nur das eine vollenden!

(Skizze Labyrinth)
Soll man ein Labyrinth ausmalen? Warum nicht?
Alles spricht gegen eine klare Komposition.

28.10.68
Die Geschichte vom Maler, der nichts mit Ausstellungseröffnungen zu tun haben will. Und dann auf die Idee kam, die umfassende Lebensschau zu bieten.
Auf der Eröffnung also saß er in einer Ecke und übte Gitarre, und außerdem baute er eine Spiegelglaswand und lebte in dem so geschaffenen Raum, und die Leute konnten bestaunen, wie er lebte.

Mehr als eine Woche war ich mit Marianne glücklich. Es klingt banal, aber es war zu schön. Ich möchte wieder so glücklich sein. Ich bin eine alte Hure, die sich Lebensart bewahrt hat. Ich bin eine alte Hure, die sich Lebenart bewahrt hat. Wenn man sich das richtig überlegt, werden Ton banal ...

1.11.68
Spirale aus der Zeit – falsch!
Die Spirale ist zu vollkommen, darum ist Hundertwasser auch ein Irrweg.
Diese Theorie von Fred Hoyle über die Quasare.
Dies und die Stelle des fünffachen Koordinatenkreuzes x=y ist und positiv negativ. Es sind die Übergangsstufen im Möbiusband. Das hängt mit dem Spiralnebel zusammen.
Konzerne propagieren die 4-Kinder-Familie "im Interesse einer kraftvollen Komsumnachfrage".

3.11.68
Ich habe immer noch kein System in meine Musikübungen gebracht.
Außerdem sollte ich abends vor jedem Schlafengehen Konzentrationsübungen machen und die dabei anliegenden Probleme im Auge behalten. Ebenso sollte ich über die Malerei reflektieren.
System!

4.11.68
Beim Anblick des Pflaumenzweiges kam mir der Unterschied zwischen europäischer und chinesischer Malerei.
Die chinesischen und japanischen Portraits, welche mir bekannt sind, haben immer etwas Persönliches des Betreffenden, sie ziehen das Resümee, während es in den starren überladenen Ausstellungen des Abendlandes schwierig ist, etwas Individuelles zu finden.
Die Manieristen haben immer versucht, dagegen anzulaufen. Aber – beim Abendland ging es immer um die Entwicklung der Idee. In China etc. ging es immer um die Entwicklung der Persönlichkeit.

Europa - Abendland – Idee – Formel – Kollektiv – Starre – töten – säubern – aufklären -analysieren – Gegenwart – unklar -
China – Tibet - Indien
Formenreichtum - Emotion - Libido - meditieren - zusammenfassen - Matrix – Zukunft -Individuum - heilig - schmutzig-

Ebenso sinniert Reinhardt über den europäischen Jazz, im Gegensatz zu den primitiven Rhythmen, ihrer Variation und die lineare Entwicklung der Musikgeschichte. Und über die amerikanische Malerei.

„Die Malvorlagen mit Farbe beklecksen und auf einer Seite mit einer Kopie übermalen - und schon hast Du deinen Stil.“
Ganz so einfach ist die Sache nicht, mein Freund, aber so ähnlich!
Ok. Aber – als Erstes muss ich meine Verhältnisse in Ordnung bringen. Und dann nie wieder.

Das Lustige ist, es ist völlig gleichgültig, ob ich Ami werde oder nicht, denn wenn es so weit ist, werde ich sowieso aussteigen.
Mutti hat aus ihrem Garten einen Friedhof gemacht und sie ist so lieb. Irgendwann wird sie auch in die Verwandlung eingehen und dann bin ich frei. 
Und irgendwie zieht es mich nach Japan und China, ich weiß nicht, warum.

 Abendland
+ ich hasse es
   ich liebe es nicht
   ich bin verbannt
verbannt will ich sein ...

6.11.68
Spielen, wie einen Baum ohne Äste malen. Und später, wenn man das kann, Zweige und Blätter und Blüten hinzufügen, dann die Vögel und Insekten und später, wie die Welt ist.
Immer beim Grundlegenden anfangen.
Willst Du eine Perfektion, so brauchst du Papier, Feder, Umschlag + Briefmarken.

10.11.68Walter Reinhardt Tagebücher 1968
Die Vision vom gläsernen Schiff im Bungalow-Stil, das tauchfähig ist.

Durch den Gebrauch des I Ging wird mir der Sinn der Wandlung klar. Für einen Außenstehenden mache ich es zu oft, aber es ist wichtig, die Wandlung der Dinge zu beachten. Und man muss es lange intensiv betreiben, bis es Eigentum wird.
Ich bin noch zu unruhig, aber es ist gut, eine Entwicklung zu beobachten. Die eigene.
Ich glaube, im Abendland wurden die Menschen erst durch die Beobachtung der Entwicklung eines Kindes reif. Man sollte, bevor man an die Erziehung eines Kindes sich wagt, seine Entwicklung beobachten. Die eigene.

Außerdem habe ich heute meine Gitarre zu Ende geputzt.
Es ist ein angenehmes Gefühl, ein persönliches Verhalten zu seinem Musikinstrument zu bekommen. Und zwar nicht aus anerzogener Reinlichkeit, sondern aus dem Bedürfnis heraus, dem Instrument, dem man solch schöne Töne entlocken kann, etwas Gutes zu tun. Außerdem muss ich noch mehr abnehmen.
Ich muss dünn werden wie früher und muss meine Probleme besser kennenlernen. Ich war bei Anke nahe daran, aber sie hat nicht mitgespielt – verständlich. Aber ich fühle ihre Sehnsucht nach mir.
Und ich sehne mich nach ihr oder etwas Ähnlichem. Ich sehne mich nach meinem Hotel und meinen Ideen. Und all den produktiven Dingen, die ich machen will.
Träume aus dem Nichts ... und die Sehnsucht nach einer verwandten Seele mit Geld.
Es sind seltsame Irrwege ...

10.11.68
Jeden Tag ein Gedicht.
kurz oder lang, … oder frei,
aber von Herzen.

12.11.68
Ich muss es doch wenigstens zu etwas bringen. Ich muss in jeder Hinsicht ein Vorbild sein, aber es ist halt das Schlimme, dass du alles aus eigennützigen Motiven betreibst.

Wenn der Wind im Meer seine Spuren eingräbt
das Wasser, das darüber gleitet,
Farbsprache und brutal lustig.
Weshalb Metaphern?

Der Mensch beschreibt nur und verändert, was ist gut.
Kraft lässt niemals nach
Sie wandelt sich
und vergeht in anderen
Dimensionen.

14.11.68
Es ist dieses ewige Hin und Her zwischen Yüan Wu und den prallen geöffneten Schenkeln eines Mädchens. Zu beiden zieht es mich gleichermaßen, aber ich bin unfähig. All das sind halbe Wege.
Das Warten macht mich müde.
Dabei würde ich nur herumstrolchen und wenn ich so weit bin, lade ich mir irgendeine Pflicht auf, die mich wieder in ihren Bann schlägt.
Was ist das? Dieses ewige Unvermögen, etwas zu vollenden. Ich baue auf und zerstöre.
Ich bewundere Menschen, die die Starrheit eines Stiers besitzen. Liegt es daran, dass ich feige bin und ein Duckmäuser, oder daran – woran
Ich fühle mich jetzt sehr müde und erschöpft, wie nach schwerer Arbeit
Heute muss ich nichts mehr.  Abgeleuchtet und zu leicht befunden. Das wird es sein. Und wenn schon. Noch zu früh. Erst werde ich meine Schulden bezahlen und dann kann ich wirklich frei sein. 3000 Mark sparen.

15.11.68
An meinem Gebrauch des I Ging sehe ich, wie ich das Leben betrachte. Zu sehr auf andere bezogen. Dabei liegt es an mir, das Leben zu gestalten.
Herr Müller z. B. warf beim Wechseln der Tischdecken meine Knöpfe, Stimmgabel und Filzschreiber auf den Boden und beförderte diese Sachen mit Genuss in die Koje. Nein, er sollte sich schämen.

17.11.68
Herr M. hat etwas gemerkt, und ich auch.
Nämlich, dass ich langsam ein Farbluftjunkie geworden  bin. Na ja… . Man kann es auch in Anagrammen sagen. Palindrome sind schon schwieriger und werden sofort geläufig.
Heute ist der erste Tag, an dem ich mich besser fühle, nachdem ich weiß, dass keine Hoffnung mehr ist, werde ich nach Bremerhaven fahren und mich auf einem Frachter bewerben. Da bin ich wenigstens mein eigener Herr und habe meine Kabine für mich alleine, dann kann ich malen und üben wie ich will und mein Geld werde ich auch so machen.
Jetzt in Bremerhaven werde ich mir den Knaur kaufen und später die Ornamente mit all dem müsste doch etwas zu machen sein – und diese eine gute Tuschtechnik ... Kalligraphie etc. …

19.11.68
My English old lady without cheese
Angekommen mit 1Tag Verspätung.
Inge im Quick Buffet, das 11. Ballett. D. hat sich nicht gemeldet, also ist der Traum aus.
R. ist wahrscheinlich dagegen usw.
Na ja es ist ganz gut, erst mal die Schulden weg und dann auf den Frachter
und long life.
Ich ffreue mich auf die Karibik. Es ist ein Seltsames mit mir.
aber ich werde den Fuchs aus seinen Bau locken und dann für mich arbeiten.
Wenn ich das so richtig betrachte, dann fangen die Maßstäbe langsam an, richtig zu werden. Außerdem werde ich noch abnehmen müssen, 15 kg.
Es ist eine (....) Situation, wenn man unangenehme Charakterzüge bekämpfen will. Man ist nicht nur alleine da, sondern man muss sich auch der Umwelt zuwenden.
Da sind im Augenblick so viele unangenehme Situationen da.
Und vor allem ist es das Aufstehen aus Gewohnheiten. Es ist vor allem interessant zu beobachten, wie Menschen reagieren, werden sie aus alten Gewohnheiten aufgeschreckt werden. An sich müssen die alten Leute hier so abgebrüht sein, dass sie jeden Jungen auswählen. (...) Aber Betriebsblindheit lässt das Urquell aller Intelligenz zu einem bloßen Weibergeschnatter werden.

21.11.68
Man muss viel Zeit darauf verwenden, herauszufinden, was man wirklich will.
Ich fühl mich heute wohl und habe das Gefühl, dass ich gewonnen habe.
So langsam beginne ich mir Namen auszusuchen, bei denen ich mich wohlfühle:

Redmahambhara
Wang(Wei) chang fu
Basutzo
WR
Maitreya

Mit einem Tag Verspätung gelangt Reinhardt am 18. November 68 in Rotterdam (?) an und stellt fest, dass aus dem erhofften Job offenbar nichts wird. Nach nur wenigen Tagen gelingt es ihm, wieder auf einem Schiff anzuheuern.

26.11.68
Gesten glücklich in N.Y. angekommen. Mit im Village gewesen, anschließend im Corso und Paichezzo gesehen und Joe Cuba.
Annschließend looking for something, aber gerade noch dran vorbeigekommen.
Abschied von Dolores, und heute Ivette von Holland kennengelernt. 17 Jahre. Außerdem überlegt, ob ich nicht in den Islands arbeiten soll. In irgendeinem Hotel wohnen, wo es auch üblich ist. Wenn möglich auf Puerto Rico, das ist für mich die beste Möglichkeit, und dann die Instrumente mitnehmen und üben und spielen. Spanisch lernen und Musik. Wenn ich dann zurückgehe, dann bin ich ein großer Mann und mit Band.

Ich habe kein Lust mehr, dass mir eine Extrawurst gebraten wird und deshalb ...
Ich arbeite immer auf etwas hin und dann reiß ich es wieder runter.
Ich bin zu müde aber, und zu schwach.

30.11.68
Morgen werde ich ins Corso gehen und mir einen Zahn anlachen, und demnächst werde ich in New York mir Arbeit suchen. Dann werde ich Auswandern und mit Bobby arbeiten, das ist auf jeden Fall besser als alles andere. N.Y. ist immer noch besser als alles andere.

2.12.68Walter Reinhardt Tagebücher 1968
Gestern abend den gleichen Fehler wie so oft begangen, nach Mädchen geschaut und gefoult worden von dem langbeinigen und verrückten arroganten Ding.
Das Schönste war, als ich aus dem Haus ging, die Geschichte mit dem Dieb. Ich wundere mich, warum der Kerl mir alles zurück gegeben hatte und nicht verschwunden ist, und drinnen einen Zahn noch verprügelt hat. Er erinnert mich an Charlie Brown von Tabarin. Das ist natürlich die Art, wie jener auch sein Geld machte.

Bobby ist ein seltsamer Mensch.
Überhaupt, was ich an diesen Latinoleuten bewundere, mit welcher Würde und mit welchem Stolz sie die Last des Lebens und der vielen Einflüsse ertragen und dabei offener in ihrer Einstellung sind als der verkommene Amerikaner und der normale Nigger. Es ist ein solcher Unterschied zwischen schwarz und schwarz, der kaum glaublich ist. Während der eine Teil versucht, sich die Habitus des Weißen zu geben – unter anderem Sammy Davis und James Brown, Jack McDuff und Jimmy Smith + Carter, ist oder bleibt der andere Teil schwarz und ist gleichberechtigt. Ein Weg, der irgendwie geradeaus , irgendwie zum Erfassen dieser Welt und eine wunderbar verklärte Weise zum Luxus und einfacher Natürlichkeit führt.
Gut angezogene Menschen machten ihn misstrauisch. Zudem suchte er in der Gefahr sein Scherflein herauszuziehen, natürlich, ohne zu großes Risiko. Da hilft kein Schönmachen. Mittelmäßigkeit. Kann man da noch viel machen?
Arbeit allein tut’s nicht, aber du hast genug Zeit, es herauszufinden bis zum Ende des Lebens.

5.12.68
Das Konstruieren von regelmäßigen und unregelmäßigen Vielecken wäre gewiss eine lohnende Aufgabe. Anfangen mit den einfachsten Figuren wie Parallelen und jeweils ein Bild davon malen oder eine Collage.

An sich beginne ich jetzt langsam einzusehen, dass die Seefahrt auch eine Sackgasse ist. Zu viel Zeitverschwendung. Aber ich muss das alles hinter mich bringen, damit ich endlich die Einmündung in den Weg finde.
Mein Fehler ist immer noch der, dass ich im Tun des Außergewöhnlichen versuche, die Erklärung oder die Erkenntnis zu finden. Ich wittere hinter jeder Handlung und jedem normalen Ablauf des Lebens ein Zeichen göttlicher Begnadigung, und meine Nase wird immer tiefer in den Dreck gesteckt. Jedes Mal, wenn ich irgendetwas plane, gelingt es mir zu spät, wenn dieses Bezugssystem bereits wieder in Frage gestellt ist.
Die Frage ist, wann werde ich gescheit?
Gibt es einen Unterschied zwischen gescheit und gescheitert?
In Lebenstedt arbeiten und mit Dietr. Brinkmann einen Workshop gründen wäre schon ganz gut. Braunschweig und VW Hannover, und Worpswede, Hamburg und etc.

(Ende Tagebuch 2)

9.12.68
Ich habe mir heute überlegt, dass es ganz gut wäre, meinen eigenen Laden aufzumachen, und zwar erst in Lebenstedt und dann später bei München o. ä., nach Möglichkeit mit eigener Band.
Gestern Abend das Beispiel mit der Nadel, die auf einem Nähfaden balanciert, einmal gelesen. Sehr klar die Bildung von Karma begriffen. Ich muss nur die Geschichte noch einmal überdenken. Ich bin mal gespannt auf das chinesische Mallehrbuch und auf Farbe und Formen.
Zuerst muss ich meine Schulden wegbekommen. und dann den  Laden mieten. Ich muss das so ähnlich wie das Take five und Blow up aufziehen mit Gogogirls und Band und Diskothek, und dann werden wir sehen.

11.12.68
Im I Ging stehen die Charaktere der einzelnen Zeichen jeweils in Anhäufungen, die man als Zyklen anordnen könnte. Dinge, in denen die Attribute sinnlos nebeneinander gestellt werden und die zusammen wieder ein Bild ergeben, und aus dem Bild zusammen ergibt sich dann ein riesiges Wandgemälde.
So ungefähr ist die Welt zusammengestellt.
Ebenso geht es mit der Musik. Du musst nur in Musik, Malerei und Lyrik denken.
Nichts Preziöses ... und nichts ist so unscheinbar, als dass es nicht Verwendung finden könnte im Gesamtbau, aber wichtig ist das Ziel Malerei, Musik und Dichtung.

Jeder Strich ist wichtig, und es ist egal, ob du spielst oder ob du in Noten denkst.
Auf jeden Fall am Ball bleiben und immer weiterkommen, das Ende kommt von alleine. Außerdem stehe ich immer kurz vor der Lösung und ich merke gar nicht, wie viele Probleme sich schon gelöst haben, und ich werde meine Zeit wiederbekommen.
Ich muss vor allem in Gebieten wie Gott, Zeit, Raum, Frühling und Tod alles erkunden.

12.12.68
Wenn man etwas erreichen will, muss man das Ziel kennen.
Wenn man kritisiert, muss man zugleich auch Möglichkeiten zum Bessermachen aufzeigen. Will man sich verständlich machen, muss man klar schreiben.
Will man malen, so will man nicht, sondern ich male, und wenn ich Musiker sein will, so muss ich Musik machen.
Immenhausen ist Maler, weil er malt. Ich bin Kellner, weil ich diesen Beruf ausübe.
Jeder ist, was er gerade macht. Was für Möglichkeiten in einem drin liegen, ist uninteressant, solange die Möglichkeiten brachliegen. Will ich also malen und musizieren, so muss ich nur die Möglichkeiten dazu schaffen oder ich muss mich auf etwas anderes konzentrieren.

14.12.68
Im Zodiakus brennt ein grünes Licht, es nähert sich mit rasender Geschwindigkeit, um noch zu retten, was zu retten ist. Es kommt von der Magellanwolke.
Das Archiv berichtet nichts von dieser Rasse der Sauerstoffatmer. Doch scheinen sie zu ihrem Anlauf die Grenzen zu sprengen, dem Gesetz der Dimensionen zum Opfer zu fallen. Mein Gott, was für ein Unikum.

Das erste intelligente Leben, das ohne das erbliche Wissen um die entropische Kraft
den Sprung in den Raum schafft, ohne Telepathie und Psychokinese.
Was ist emptolytische Verzahnung, und was ist Emptose?
Was ist Entropie der Überdimension? Es gibt keine Linearität, es ist dieses System, an dem alles scheitert.

Reinhardt listet einfache Zahlengleichungen wie 1x2=12, 2x2=23 (...) auf, die nur scheinbare Gleichheit von Zahlenwerten und gesicherten Ergebnissen abbilden, und erläutert, warum die Bewertbarkeit von scheinbar Gleichem seiner Ansicht nach stets hinterfragt werden muss:

Ich kann nicht sagen, 3 x 4 Äpfel sind 12 Äpfel, sondern ich muss sagen: Wenn ein Computer und auch eine Maschine, die sich selbst überlebt, die Inkarnation eines Apfels, ja selbst die eines Wasserstoffatoms oder die eines Elektrons abtasten würde, wurde er zu dem Schluss kommen, dass nichts sich gleicht und demnach nichts bewertbar ist.
Es gibt zwar ein Quantum und eine Qualität, sie ist aber in jedem Fall einmalig möglich.
Selbst gesetzt den Fall, dass absolute Gleichheit der Information besteht, ist es doch 11.
In einem solchen Fall gibt es nur Fiktion für den Fall, dass ich etwas Bestimmtes erreichen will, im Moment, wo das Gewünschte erreicht ist, fällt das System zusammen und ich muss mich den neuen Gegebenheiten anpassen.

20.12.68Walter Reinhardt Tagebücher 1968
Bescheidenheit unter den Menschen: Hochmut zieht Abneigung nach sich, Bescheidenheit gewinnt Liebe.
Immer ist der letzte Grund nicht die Außenwelt, die vielmehr nach festen Gesetzen reagiert, sondern der Mensch selbst, der die guten oder bösen Wirkungen je nach seinem Verhalten auf sich zieht. Den Weg sich auszudehnen geht durch das Zusammenziehen. Dies ist auch ein Thema zum Meditieren.

Auf diese Überlegungen folgt eine Abbildung, die diesen Gedanken illustriert, sowie eine Erläuterung der Übertragung des Vorganges auf die ideale Gestaltung von Erkenntnisprozessen, seinem künftigen „Mantra“.


Expansion <-> Kontraktion
Jeder Mensch ist wie ein kleines Universum, nachdem er die Information aufgenommen hat, zieht er zusammen und kann sich dann wirklich in dieser Welt ausbreiten.
Diesen Prozess mache ich jetzt durch und ich muss abwarten, bis er zu Ende geführt wird, vor allem darf ich nichts vorantreiben.

22.12.68
Heute Abend der Freischütz im Fernsehen. Irgendwie liegt in den festgelegten Musikstücken ein Reiz. Ich muss da an Heinz Mühl denken und an das No-Spiel in Japan. Der Unterschied ist der, im No wird das Ego aufgegeben, während in der Oper und auch in der Musik immer noch die Freiheit  der individuellen Interpretation gewährt wird.

24.12.68Walter Reinhardt Tagebücher 1968
Seitdem ich Bass spiele, habe ich ein viel besseres Verhältnis zur klassischen Musik, wenngleich ich immer noch nicht aus dem raschen Melodienwechsel von Dur und Moll klug werde, aber seitdem ich mir das Buch über Latin Music + Rhythm geholt habe, weiß ich auch langsam, was eine Partitur ist. Jetzt fängt manchmal das Leben an Bord an, Spaß zu machen.



26.12.68
Wachsplastiken – höchste Zeit, dass ich darauf gekommen bin. Diese Formen kann man in Sand modellieren, mit Metall ausgießen und außerdem jede gewünschte Form  darstellen und ausmalen.
Wachsplastiken sind ein schöner Zeitvertreib und außerdem kommt es meinen Formen entgegen. Die scheinbar durch Zufall entstandenen Formen des Wachses auszubauen ist wie ein Schöpfungsakt, in dem man Verborgenes zutage bringt und die Seite dem Betrachter zuwendet.

Ich muss mehr Intervallübungen machen, damit ich genauso üben lerne. Am besten, ich kaufe mir einen Kopfhörer, damit ich mir die Basslinien mehr einpräge. Die Methode von Zatschav ist, die Basslinien am Anfang so einfach wie möglich zu spielen und im Laufe des Stückes genau hinzuhören und mitzuspielen. Er hört also nicht sich selbst wie so viele, sondern er hört, was gespielt wird. Dann ist es das Beste, zu hören, was die anderen machen und dann seinem Gefühl zu folgen.
Man muss natürlich seine Gefühle entwickeln. Das ist entwicklungsfähig wie alles andere. Wesentlich ist es auch, dass ich die Plänemacherei nicht mehr so intensiv betreibe wie vorher. Leben und arbeiten, alles andere kommt von selbst.

28.12.68
So langsam muss ich die neuen Erkenntnisse etwas anwenden und jeden Tag betreiben.
Yogaübungen im Bett, Konzentration. Tanzschritte ausdenken. Muskelbeherrschung. Konzentration auf Verdauung, dann auf den gesamten Körper und Gesundheit.
Jeden Tag noch lesen. Und schreiben. Ein Gedicht. Bilder ausdenken. Basslinie ausdenken.

Die oben gefassten Vorsätze setzt Reinhardt in den folgenden Wochen offenbar konsequent in die Tat um. In seinem Tagebuch wird das in erster Linie ersichtlich durch die Aufstellung von persönlichen Glaubenssätzen, die er in den kommenden Wochen entwickelt. Der Weg zur Ausformulierung ist anhand seiner Eintragungen in Teilen nachvollziehbar. Die einzelnen Grundüberlegungen ziehen sich wie Leitmotive durch die Notizen der folgenden Wochen. Daneben nehmen das Malen und Übungen zum Skizzieren großen Raum ein, verdrängen offenbar eine Zeitlang die Überlegungen über die Zukunft. Er begibt sich wieder auf Reisen.

28.12.68
Am 28.6.68 war ich noch in München. Jetzt bin ich hier, und habe es schon wieder … was will ich bloß?
Die Expansion geht durch das Zusammenziehen.
Wenn man nach einem Sinn suchen sollte, dann fragt man zu viel ... es ergibt keinen Sinn. Es ist so, und da hilft kein Analysieren, nur noch Leben.
Fragen erbten sich, man schlägt zu viele Chancen aus, und die letzte ist der Tod. Und dann kommt die große Ruhe und der ganze Quatsch, der darüber geschrieben wurde.

29.12.68
Heute Lissabon. Kathedrale und Altstadt anschließend Alice. Die Altstadt ist wie ein Bazar. Ali war nett. Rosa scheiße, aber immer noch mit Witz. Aber was verlange ich? Liebe? Und für das andere reicht's. Trotzdem hat mich  Alice erregt. Nicht einmal Bärbel vermochte das. Sie sah irgendwie wie Tina aus und war auch so ähnlich gebaut.
Es wird langsam Zeit, dass du zu Geld kommst und dein Hotel bekommst.

Walter Reinhardt Tagebücher 1969
19.1.69
1. Kontraktion zur Expansion
2. Haiku
Ich sehe Bilder aus Tusche, gleißende Punkte und Grau.
Ich bin wieder einmal niedergeschlagen, da alles wieder einmal aussichtslos ist. Im Gegensatz zu früher, wo ich noch so viele Möglichkeiten offen hatte, sieht es jetzt doch schon sehr beschränkt aus. Ich träume immer mehr davon, nur noch Bilder zu malen und Filme zu machen, Musik, Bilder vom Meer mit Horizont. Bilder mit farbigen Sand und Kritzelfiguren in Tusche. Es gibt zwei Möglichkeiten: Vancouver oder München. Oder Lebenstedt und Job und malen.
Alles zielt auf den einen Punkt hin, nämlich der Erleuchtung.
Ich muss mehr über die Kontraktion nachdenken.
Der Anfang war ganz gut. Die Auflösung von München – es muss noch mehr weg. Alles bis auf Malwerkzeug und den Bass.
Malen ist langsam ein Zwang geworden. Jetzt muss es langsam die poetische Formulierung sein. Es ist schlimm mit mir. Ich bin müde, wann wird die Zeit kommen, dass ich den Winter über ungestört schlafen und arbeiten kann.


20.1.69
Wie es scheint, ist wieder einmal eine Periode der Niedergeschlagenheit mit Depression vorüber. In dieser Zeit habe ich keine Haltung und habe vergessen, was ich darstelle, komme mir klein und verworren vor, keine Klarheit, alle guten Vorsätze kommen mir minutenweise zum Vorschein. Es ist dies eine entsetzliche Krankheit, denn ich bin mir meiner Schwäche bewusst und hasse sie, weil ich mich beobachte, dass ich z. B. fresse wie ein Schwein. Verliebe mich in die Mädchen nur, um an die Fotze zu kommen.
Dabei sehe ich das Ende ganz klar voraus. Es ist wahrlich schizophren, wenn man so oft gegen seine Überzeugung und Wissen handelt. Und man sieht aus diesem Teufelskreis keinen Ausweg.
Es macht mich so traurig.
Die Konsequenz des Denkens ist mir gegeben, aber nicht die des Handelns. Dabei müsste ich doch langsam meinen Körper in Beherrschung haben.
Ich muss mehr über die Kontraktion nachdenken und über die Hinwendung zur Expansion. Es ist ein schönes Meditationsthema. Ansonsten ein Aufsatzthema. Gliederung. Ich muss mangels Guru mein eigener sein.

Habe im Schaufenster das variable Bild der Yellow Submarine gesehen. So etwas könnte man mit Magneten versehen auf einer Wand machen, damit könnte ich Mandalas konstruieren und schnelle Illustrationen zum Tibetanischen Totenbuch. Fotografien.

22.1.68
Ich glaube, es ist doch das Vernünftigste, zu sparen und sich selbstständig zu machen. Auf die Art und Weise kommst Du am schnellsten zu Geld.
Chinesische Lampen. Manche aus Papier, und Holz oder Plastik.

26.1.69
Eine der besten Geldanlagen ist immer noch als Taxifahrer, aber das kostet 10 000,- DM. Wenn ich mein Geld anlege und dann kommt die Olympiade, dann kann ich meine Kohle machen mit zwei Autos.
Walter Reinhardt Tagebücher 1969
Mancher denkt deshalb, Gutes im Kleinen habe keinen Wert, darum unterlässt er es. Er denkt: Kleine Sünden schaden nichts. Darum gewöhnt er sie sich nicht ab.
So sammeln sich seine Sünden an, bis sie sich nicht mehr beichten lassen (...)

29.1.69
Die kleinen Sünden summieren sich, bis die Schuld so groß wird. Auf der anderen Seite bleibt die Frage, was ist Sünde?
Buddha war fern von Sünde, weil alles, was er tat, richtig war und mit seiner Überzeugung übereinstimmte. Man muss also sich bestimmte ethische Grundregeln zu eigen machen und nach ihnen leben.
Er tat aber auch alles ohne Anstrengung. Es ist dasselbe, was Zen und Tao bedeuten.
Ich muss also nicht nur wissen, was ich will, sondern auch warum, und wenn denn allem ein Funkeln von Eitelkeit anhaftet, dann muss das ausgehoben werden. Aber ich bin vom Standpunkt des Zen vom Anfang noch weiter entfernt bin als mancher Kollege vom Schiff.

31.1.69
Wenn ich jetzt Zeit habe, muss ich an Landschaften gehen. Mit dem Tuscheknochen kann ich jetzt praktisch alles malen, sogar das komplizierteste Interieur.
Ebenso Portrait und Gestalt. Mit Knochen und dann später die Farbe aufgetragen, ist das relativ einfach. Mit leichter Tusche einen Knochen und dann genaues Arbeiten in immer schwerer Tusche oder Paynesgrau.
Später kommt dann der Akt und dann bin fertig. Ebenso muss ich beim Bass verfahren. Zuerst den Knochen = den Rumpf und dann den Rest.
Und nicht in die kleinen Sünden verfallen und gleich groß spielen wollen.

1.2.69
Im Rausch Gedichte zu Ende oder weiterschicken. Impressionen zu Mallarmé oder Rimbaud, Ezra Pound, T. S. Elliot und Joyce aufs Tonband sprechen und mit den Dingen verbinden.
Die All-Metapher verwenden. Seefahrt ist schön. Richter hat recht, ich muss so oft wie möglich an Land, um zu sehen zu hören und zu riechen. Ich muss auch noch mein poetisches Pensum vollbekommen. Und dazu malen und Musik machen.

Die Themen in WRs Skizzen überspannen auf den nachfolgenden Skizzen ein weites Spektrum: Zeichnungen von Mönchen, ein Vogel auf einem Ast oder Portraits und Stillleben nach der Natur wechseln sich ab mit abstrakten, wie mit Mustern gefüllten, oft undefinierbaren Objekte. Landschaften nach Art der chinesischen Malerei erhalten Strukturen durch parallele Schraffuren, konzentrische Kreisformen, Wellenlinien oder Punkte. Die ersten Sätze seines „Mantra“ schreibt er am 2. Februar in sein Tagebuch:

Durch Kontraktion zur Expansion. Die kleinen Sünden häufen sich an. Nur durch Wiederholung wird der Stoff zum Eigentum.

3.2.69
Gedicht Ex-Yoga

Die grüne Farbe des Ärgers
geht in die Landschaft
und nimmt ihr den Hauch
von Ungezwungenheit

Veränderte Situation anpassen.
Das Schwierigste ist es, in extrem veränderlichen Situationen zu sich selbst zu finden, oder sich selbst treu zu bleiben: Kopf hoch, auch wenn der Hals auch dreckig ist.
Manchmal ist es schwer, barmherzig zu sein.

Ich muss mich bei meinen täglichen Übungen auf kurze Formeln beschränken, damit alles auf einmal gegenwärtig ist.

y+m
yo+me
yog+med
yoga  med
yoga o medit
yoga o m mediti
yoga om m meditie

4.2.69
Durch Kontraktion zur Expansion
Kleine Sünden häufen sich an.
Nur durch Wiederholung wird Stoff Eigentum.
Nur wer den Dingen so wie sie sind, ins Auge zu schauen vermag, ohne jeden Selbstbetrug und Illusion, entwickelt sich aus den Ereignissen ein Licht, das den Weg zum Gelingen erkennen lässt.

Mit den vorhergehenden Sätzen hat WR die endgültige Formulierung für sein „Mantra“ gefunden. Von nun an schreibt er es fast täglich in sein Tagebuch, teilweise gefolgt von weiteren „Erkenntnissen“. Zeitweilig ergänzt er die Kontraktion um den Hinweis aufs „Einatmen“, die Expansion mit dem „Ausatmen“. Die Glaubenssätze wechseln sich mit Skizzen ab. Erst ab dem 27.2. wendet er sich wieder ausführlicher anderen Themen zu. Das Mantra wird auch in der Folgezeit immer wieder eingestreut.

Wie stand Buddha zu den veränderlichen Situationen?
Veränderte er ein Teil und blieb der andere Teil er selbst? Oder gibt es keinen Unterschied?

5.2.69
Alles ist Mangel an Konzentration. Ich muss dieses Thema erst einmal aufgliedern.
Aber wenn ich etwas erreichen will, dann muss alles Überflüssige fortfallen und die ganze Kraft dem einen Ziel zugewandt werden.

Auf jeden Fall freue ich mich auf meine Polaroidkamera. Dann kann ich Bilder speichern für die nächsten Jahre. Auf jeden Fall muss ich mich auf ein fest umrissenes Ziel konzentrieren und das mit allen Mitteln zu erreichen versuchen. Mit der Linienführung im Malen habe ich einen entscheidenden Schritt vorwärts getan.

Ich muss mich auch dem Siebdruck zuwenden.
Und zwar die Kombination von Photographie und Sieb, bei der das lichtempfindliche Gelee verwendet wird, und dann Kombination von starren graphischen Elementen mit den gewachsenen organischen Elementen. Vor allem muss ich lernen Landschaften zu malen, und mir eine Naturaliensammlung zulegen. Landschaften in allen Techniken von der Feder bis zur Tusche, Öl hat Zeit.

Es ist ein Irrtum, dass nur Öl auf Leinwand Geld bringt.
Tusche hat Zukunft, wenn sie so schön ist wie meine. Vor allem muss ich portraitieren.
Ich werde eine andere Art von Portrait malen, die Zukunft hat.
Ich darf nicht vergessen, das I Ging zu illustrieren.

Der Gebrauch von Drogen ist für WR offenbar ein probates Mittel, um sich in gute Stimmung zu versetzen. Es bereitet ihm Probleme, den bewussten Ausgleich zwischen Aktivität und Entspannung zu finden. Diesen Kummer führt er in Zusammenhang mit seinem regelmäßigen Konsum von AN1 an, das er „nun nicht mehr braucht.“ Er nutzt es jedoch weiter als Appetitzügler.

12.2.69
Vor allem sollte ich die Kalligraphie pflegen, jede Art von Schriftenmalerei, ganze Texte in einer einheitlichen Schrift, z. B. „Un coup des dés“  von Mallarmé mit Illustrationen.
Immer mehr auch daran gewöhnen, Gedankengänge über längere Zeiträume kontinuierlich zu verfolgen und zu entwickeln.

13.2.69
Das Schicksal kommt von selbst. Hat jedoch mit Vorbestimmung wenig zu tun.
Denn das was kommt, ist das Resultat aus der Summe der vorhergehenden Handlungen. Es lässt sich also mit gewissen Einschränkungen vorausbesehen. Deshalb ist das Gebot nur auf die Handlungen des Jetzt zu konzentrieren.

14.2.69
So ist auch das wahre Wesen des Menschen ursprünglich gut, aber es wird getrübt durch den Zusammenhang mit dem Irdischen und bedarf daher der Läuterung, damit es in seiner ihm ursprünglichen zukommenden Klarheit leuchten kann.
Die Story vom intelligenten Computer geht anders. Er baut in aller Stille den Übercomputer im Weltraum ... Ihn interessiert weder Leben noch Tod, denn er ist unzerstörbar.

16.2.69
So ist auch das wahre Wesen des Menschen ursprünglich gut, aber es wird gestützt durch den Zusammenhang mit dem Irdischen und bedarf daher der Läuterung, damit es sich in seiner ihm ursprünglichen Reinheit zeigen kann.

18.2.69
Wenn ich einmal den Senfkorngarten abgeendet habe, dann kann ich mit der Einleitung sagen, ich kann all das malen, was mir vorschwebt.
Ich muss dann Mr. Hendrix in Jamaica kennenlernen.

Sowie ich Zeit habe, muss ich soviel wie möglich Naturstudien machen und auf jeden Fall jede Kopeke sparen, einschließlich Luxus Polaroid.

20.2.69
Das Ende – Kontraktion, nach innen gerichtet, Konzentration – Einatmen, Systole.
Der Anfang – Expansion – Ausatmen, Diastole, nach außen gerichtet. Medizinische Anwendung.

Die nächsten Seiten aus den Tagen bis zu seiner Ankunft in New York sind mit Wiederholungen des Mantras und Zeichnungen gefüllt.
Walter Reinhardt Tagebücher 1969


6.3.69
Es ist so schwer, sich zu konzentrieren.
Kontraktion – Expansion (...)

9.3.69
Gestern abend im Village Gate gewesen und Dizzy und Gerry Burton gesehen. Der Gitarrist war ganz gut, Gerry auch. Dizzy hat etwas enttäuscht, hat Ähnlichkeit mit Booker Ervin. Anschließend im Corso, schon besser. Am besten ist es immer noch im Top of the Gate.
Heute im Metropolitan gewesen. Am meisten haben mich Monet und das Speisezimmer beeindruckt. Am meisten habe ich noch vom Porzellan gehabt.
Chinatown ist interessant, auch die Wandschirme.
Stilisiertes Alphabet. Ebenso wie gestern abend er Flötist, die Harmonie am Anfang in 1/8 und später Rhythmen ausspielen. Am Anfang die Harmonie genau und später seltsame Formen erfinden.

12.3.69
! Schaufenster konstruieren wie im Village.
Kontr. – Exp. Kl. Sünden häufen sich an.
! Der Schluss von der Space Odyssee. Film à la Joyce. Albers.

12.3.69
Immer wenn ich mit Abnehmen etc. etwas vorangekommen bin, erfolgt ein umso größerer Rückschlag. Versuche, in die Bar zu kommen.
Ich muss unterwegs öfter in Museen gehen. Ich musste heute wieder an Schlemmers Tänze und Zeichnungen denken. Westerland ist geeignet ...

13.3.69
Das Beste ist, den Sommer und Winter über zu fahren, und dann die nächste Saison in Westerland in einer Bar zu arbeiten. Westerland ist geeignet als Landschaft. Dann habe ich etwas Kapital und kann den Winter über studieren. Bass und malen den Sommer gehe ich arbeiten, aber auf jeden Fall als Assi.
Außerdem muss ich versuchen, mein Inneres zu konsolidieren.
Auf jeden Fall war der Aufbruch von München gut. Es war ein Aufbruch von Spielerei und erworrenheit. In mir hat es von 1952 bis jetzt gedauert, bis ich so weit war, um dies zu  erkennen. Jetzt muss ich noch einmal die Geschichte mit der Frau hinter mich bringen.

Alte Leute, die Gedächtnisschwund haben, sind irgendwann gut drauf, denn sie leben im Jetzt. Sobald ich wieder eine feste Bleibe habe, muss ich anfangen, (...) die Fotos auswerten. Unter Umständen werde ich noch ein paar Reisen nach Südamerika West machen, und Japan.

14.3.69Walter Reinhardt Tagebücher 1969
Nachdem ich das AN1 genommen habe, gelingt es mir, meine Fresslust einigermaßen im Zaum zu halten. Ich muß mir in N.Y. etwas Ähnliches oder Besseres besorgen. Im Grunde genommen brauch ich es nicht, weil ich immer lustig bin, aber ich bin zu fett.


16.3.69
Die 16 Lohan des (...) sind ein gigantisches Meisterwerk.
Karikaturisten und Portraitisten des Abendlandes müssen vor so etwas erblassen. Es gibt schon in dem Skizzenbuch von Holbein und Bosch so etwas, Daumier war groß. Was ich vor allem bei Daumier vermisse, ist die Güte und die Ausgeglichenheit. Er hat nur die ätzende Schärfe, die Voltaire ähnelt. Drum ist es das große Verdienst von Picasso, dass er die menschliche Figur auf Grundaussagen zurückgeführt hat.

17.3.69
Diese Strichübungen bringen mich unglaublich voran, sie erzeugen im Lauf der Zeit bei mir das Bedürfnis, weiterzugehen und es ist im Grunde genommen gleich, was und wie systematisch ich übe. Die Hauptsache ist, dass ich übe. Ich muss das jetzt mit der Gitarre genauso weit bringen. Ich muss mir da unbedingt etwas einfallen lassen.

18.3.69
Am besten warte ich noch mit der Polaroid und kaufe mir dann eine größere Kamera, bei
der ich einen Polaroideinsatz aufsetzen kann. Wenn ich doch bloß immer so straight sein könnte wie jetzt, dann hätte ich in drei Jahren erreicht, dass die Grundlage für die Zukunft gesichert ist.
Im Augenblick bin ich so mutlos, aber das kommt schon wieder.

Linien-Strich-Zeichnungen finden sich, zum Teil seitenfüllend, auf vielen der folgenden Seiten. WR setzt sie zunehmend häufiger zur Strukturierung von Flächen ein. Sie erinnern hier an Holzmaserungen oder auch an Höhenlinien, wie sie Kartographen reliefartig für exakte Landschaftsdarstellungen verwenden. Sie finden sich auch in seinen Bildern wieder.

19.3.69
Ich muss mir unbedingt Speed besorgen, damit ich jetzt abnehme.

22.3.69
Die Wissenschaft soll eine erfrischende und belebende Kraft sein. Das kann sie nur werden im belebenden Verkehr mit gleichgesinnten Freunden, mit denen man sich bespricht und übt in der Anwendung der Lebensweisheit.

24.3.69
Als Vorlage klassische Kompositionen nehmen und dann nur einzelne Details herausarbeiten, erdige Farbe und Braun und Ocker benutzen. Als Vorbild Reiterzug in felsiger Landschaft. Gefährliche Traumsituationen und ganze Rollbilder schaffen mit optischen Effekten und Collagentechnik.
Wenn man beharrlich und still fortarbeitet an der Beseitigung der Widerstände, gelingt
es schließlich.

Ich bin wirklich gespannt, wie mein Leben zu Ende geht. So viel Planlosigkeit mit solch gutem Endprodukt, das ist eigentlich kaum zu glauben. Dass ich in jeder Situation immer  ehrlich geblieben bin, spricht für meine Begabung, aus dem Leben die Essenz zu ziehen.

1.4.69
So langsam sehe ich eine Chance, Gitarre und Bass zu üben.
Vormittags Noten, nachmittags praktisch und außerdem verdiene ich Geld. Das ist effektiv ein Schritt vorwärts. Außerdem verdiene ich jetzt genug, um mir die Vox-Gitarre zu kaufen. Dann kann ich vier Jahre oder sechs leben und Geld machen, um mir den Laden zu kaufen und das Taxi und außerdem Zeit zum Üben. Praktisch kann ich auch wieder in der Band arbeiten. Außerdem muss ich mir eine Pauly mit Polaroid holen, mit der Kamera schöne Aufnahmen schießen und diese dann im Laden später als Blickfang verwenden.

5.4.69
Aus der Position heraus gesehen kann man viel schaffen. Das Wesentliche ist, dass man es mit der Persönlichkeit macht.

6.4.69
Man darf auf das hochgesteckte Ziel eines Himmelsweges fixieren. Am besten ist es jedoch, sich jeden Tag zu erneuern.
Ich wünsche mir zwar eine Frau, aber es muss nicht unbedingt diese sein, sondern ein Mensch, der diese Charaktereigenschaft aufweist. Trotzdem möchte ich Genie haben. 
Wenn nichts mehr da ist, wohin man zu gehen hätte, ist das Wiederkommen von Heil.

10.4.69
Erst muss man die Gründe kennen, die zum Verderben geführt haben, und dann muss man Sorge tragen, dass das neue Geleise sich sicher einfährt. An die Stelle der Gleichgültigkeit und Trägheit muss Energie und Entschlossenheit treten, damit auf das Ende ein neuer Anfang folgt. Man muss jede Tätigkeit mit Energie betreiben.

Ok. München ist abgelaufen, aber wenn du jetzt dastehst, dann bekommst Du Dein Haus Wiesenstein, die mythische Schutzhülle deiner Seele.
Mach Dir schon Gedanken.

Mein klares Ziel ist ein kleines Hotel, mit Garten und einer Bar oder Bibliothek mit einem umfassenden Programm und Jazz, also Kultur.
Durch das Hotelpersonal bist Du versorgt, der Garten bietet Dir die Möglichkeit, plastisch zu arbeiten, außerdem hast du ausreichend Raum, in dem immer Bewegung ist.
Das Hotel ist garni. Du hast immer Leute um dich, dafür musst du jetzt 10 Jahre arbeiten, dann bist du 46 und kannst dich damit zur Ruhe setzen.
Besondere Freude wird es Dir bereiten, die Zimmer auszustatten. Nach Möglichkeit Kurort ... Ungefähr 60 Betten. Der Frühstücksraum muss eine Kostbarkeit werden, mit Blumen, die Zimmer wohnlich, mit Dusche ohne Bad. Toilettenlektüre, alles mit Kleinigkeiten ausgestattet, an die man sonst nicht denkt. Zahnbürste und Zahnpasta.

12.4.69
Langsam bekommen meine Strichzeichnungen Format und vor allem Feinheit. Immer weiter arbeiten.
In der Musik bin ich auch schon weiter. Ich muss noch darauf konzentrieren, Intervalle zu hören.

Ich muss mich noch vor allem konzentrieren lernen auf jede Äußerung des Lebens, die vorkommt. Gehe ich auf Toilette, muss ich mich auf die Entleerung konzentrieren, male ich, muss ich mich aufs Malen konzentrieren.
Lebe ich, muss ich mich aufs Leben – einatmen und ausatmen – konzentrieren. Wenn man das schafft, dann kann man in Freiheit leben. Ich muss mit Konzentrationsübungen langsam anfangen.

Ich muss auch nach dem vorhergehenden Bild Bewegungsstudien malen – alles, was ich später mit Pinsel machen will, jetzt mit dem Filzstift ausführen. Die Sachen kommen in Farbe besser an und man kann mit Farbe Mangel übertuschen nach diesem Schema.

15.4.69
Traum:
Ich fuhr mit einem Auto einen Berg hoch, auf der rechten Seite stand ein rotes Auto, in dem ein blondes Mädchen saß. Die Frisur war das was man  als strubbelig bezeichnet und eine spitze Nase stand im Gesicht. Die Straße war lehmig und ohne Asphalt, nur so gerade gemacht, es war heiß und trocken. Auf einmal traf ich ein Mädchen, es war braungebrannt und vollbusig sie lag auf einem Karren und ich war auf einmal nackt und legte mich auf sie. Der Karren fuhr dann mit uns beiden den Berg hinunter, als wir das rote Auto trafen, dessen Scheiben zersplittert waren, blickte das blonde Mädchen
immer noch unverwandt in die selbe Richtung, ohne mich zu beachten. Die Richtung ihres Blickes war halbrechts in Fahrtrichtung. Später ging ich in einen Kaufladen und da traf ich Anke. Sie war sehr schön. ich gab ihr einen Schubs wie ich immer zu tun pflegte wenn wir uns  trafen. Da wurde sie davongetrieben wie schamlos.
Dieselbe Szene wiederholt sich ohne Knuff und sie schaut mich ganz erschreckt an. Ich hatte Sehnsucht nach Ihr, aber ich ließ es mir nicht merken.

18.4.69
Die Bilder mit den vielen Blumen und Stillleben in kleinen Quadraten. Die Wassermelone. Querschnitte von Früchten wie Klee. Wassermelonen + Hundertwasser.

Ich muss mir unbedingt die Linhof anschaffen. Damit ich die Sonnenuntergänge und das
Farbenspiel in der Karibik aufnehmen kann für später.

19.4.69
Wenn man widerspenstigen und schwer zu beeinflussenden Menschen gegenübersteht, beruht das ganze Geheimnis des Erfolges darauf, dass man den richtigen Weg findet, um Zugang zu ihnen zu finden. Man muss sich innerlich ganz frei machen von seinen Voreingenommenheiten. Man muss sozusagen die Psyche des anderen ganz unbefangen auf sich wirken lassen,  dann kommt man ihm innerlich nah, versteht ihn und bekommt Macht über ihn, sodass die Kraft der eigenen Person durch die geöffnete Pforte Einfluss auf den anderen gewinnt.

Die Zeit, die ich jetzt durchmache, ist die beste Zeit, voll von Bekenntnissen und Ideen muss ich arbeiten und habe sogar gelernt, es mit Lust zu tun. Um wie viel besser wird meine Malerei jetzt sein. Jetzt muss ich mich dazu bringen, noch abzunehmen, dann ist alles klar. Der Rest sind Organisationsprobleme, die, wenn man ein klares Ziel hat, leicht zu lösen sind. Auf jeden Fall musst du 50 zusammenhaben, ehe du aufhörst.


Tagebuch 4
24.4.69 – 29.10.69

24.4.69Walter Reinhardt Tagebücher 1969
Die Gefahr sieht von einem sicheren Standpunkt schön und gewaltig aus.
Wenn jemand „himmlisch“ zur weiten See des Atlantiks von Bord eines Schiffes sagt, so wird ihm das vergehen, wenn das Schiff untergeht. Ebenso wird vom Heroismus und Heldentum gesungen, wenn vom Krieg die Rede ist. Im Schlachtfeld bleibt nur noch die Angst der Existenz übrig.

Traum:
Ich war in einer rötlich beleuchteten Stube, an die Menschen kann ich mich nicht erinnern, aber an ein schönes vollbusiges  Mädchen. Sie hatte gelbe Hosen an mit weitem Schlag. Es wurde mir mein Mojo in den Mund gelegt. Es  brannte auf der Zunge mit einem metallenen Geschmack. Nachdem es im Mund war, kam es mir vor, als wenn es mit meiner Zunge verwachsen war. Ein weißes, bläuliches Licht strahlte daraufhin aus meinem Kopf.

In meinem Leben ist eine neue Periode angebrochen, seit ich mir das Ionesco-Buch gekauft habe, den Dali, und den Chinesen werde ich mir auch kaufen müssen.
Außerdem muss ich mir eine Sammlung von Mingus Monk und Coltrane anlegen.
Auch ist es demnächst an der Zeit für Heirat.

Mantra:
Nur wenn man den Dingen,
so wie sie sind, ins Auge zu schauen vermag,
ohne jeden Selbstbetrug und Illusion,
entwickelt sich aus den Ereignissen ein Licht, das den
Weg zum Gelingen erkennen lässt.

Denn allzu strenge Askese führt wie allzu strenges Strafgericht zu keinem Erfolg.

Manches Mal denk ich mir, es ist so viel zu tun und so wenig Zeit. Aber dann kommt es  mir, es gibt keine verschwendete Zeit. Im Grunde bin ich so fleißig wie noch nie.
Was mich im Augenblick stört, ist der Mangel an Haltung und Konzentration. Ich muss Noten und Intervalle hören.

WRs Zeichnungen zeigen (Selbst-)Porträts, kleine Strichfiguren und Variationen von Zahlen, die teilweise wie Schriftzeichen anmuten.

26.4.69
Ich darf das Trichloräthylen nicht vergessen und muss es als Collage mit Ausschnitten und Zeichnungen kombinieren. Ich muss mir die Raffinessen der Japaner in der Dekoration aneignen. Das ist ja auch was ich will. Dali zu bewundern. Dali ist nicht nur ein Wunder in Technik mit Talent, sondern ein Wunder an Geschmack. Was ich mit meiner Technik zusammenbringe, ist sehr ermutigend. Ich muss das auch in der Musik schaffen.

Ich muss mir noch Literatur über japanische Innen- und Außenarchitektur anschaffen.
Jetzt lege ich mir das Handwerkszeug für regelmäßiges Arbeiten zu.
Wenn ich daran gehe, eine Ausstellung vorzubereiten, dann muss das so weit wie möglich perfekt sein. Ich muss mir eine Adressensammlung anlegen, damit ich später gezielt an Leute verkaufen kann, die Geld haben.

28.4.69
Eine Rolle malen mit Tagesabläufen auf dem Meer.
Sonnenuntergänge und Aufgänge, dazwischen mit silbernen und goldenen geometrischen Figuren, stilisiert und mit extremen Farben, danach eine Insel und dann wieder Meer.

Nur durch eine tägliche Selbsterneuerung bleibt man auf der Höhe der Kraft.
Der wichtigste Punkt ist – Konzentration. Nicht auf etwas konzentrieren, sondern konzentrieren.

2.5.69
Hypnopädie muss ich mir unbedingt merken und anwenden, nicht nur auf den musikalischen Bereich, obwohl dieser besonders dafür geeignet ist – wenn man musikalisch ist.
Außerdem habe ich wieder kräftig zugenommen.
Aber es kommt mir so vor, als wenn ich jetzt für eine Verpuppung esse, und eines Tages schlüpfe ich als schlanker und elastischer Typ heraus. (...)
Entweder ich werde verrückt oder ich schaffe es. Nämlich das Zusammenfügen solcher widersprüchlichen Elemente, wenn Götter sich in menschliche Wesen verwandeln.

6.5.69Walter Reinhardt Tagebücher 1969
Bildgeschichten in Hieroglyphen. In Symbolen einen Zeitablauf ausdrücken.
Ich muss mehr über die Mayas und Tolteken in Erfahrung bringen.
Das Buch in Bremerhaven. Außerdem muss ich mir die Sammlungen in New York anschauen.

„Tibet – China – Maya – Inka – Sumer – Ägypten – Organa“

15.5.69
Mc Luhan (gemeint ist „Understanding Media“, ein 1964 erschienenes Grundlagenwerk der Medientheorie, Anm. d. L.) gekauft.
Es ist heutzutage sehr schwierig, ein Held zu werden.
Der Held war früher stark, ein bisschen naiv, intolerant und rücksichtslos gegenüber dem, was eine verbindliche Allgemeinheit für Recht erachtete. Heute haben sich die Begriffe etwas verschoben. Ein Held kann man fast nur noch im Krieg werden. Die Wandlung des Helden!

16.5.69
Der Rosenkranz als Gedächtnisstütze wie die Schnüre der Inka: die Quipus.
Immer die richtige Einstellung zur Umwelt finden.
Die Idee mit den Quipus ist so gut, dass ich mir, wenn ich das Geld habe – und ich habe das Geld – wenn ich die Idee dazu habe, einen Rosenkranz aus 50 Teilen anfertigen zu lassen. Und zwar wie beim Schafgarbenorakel, das stimmt bis auf einen Tag zusammen mit dem Bardo des Totenbuchs, 49 Tage, 1 Tag oder Punkt dem allumfassenden Tao gewidmet. Das ist 7 hoch 2+1, das sind 47 Übungen am Tag, und jede Übung ist in 7 Teile geteilt. Deren Teil von 49, der übrig bleibt, ist der Übersicht, dem Ganzen gewidmet. Mit dieser Hilfe werde ich es schaffen, mein Karma zu ändern und fortzuschreiten im Wege, der zur Erlösung führt, denn mächtig ist die Kraft der Übung. Das Problem besteht nur darin, dass ich für mich keine spezielle Art der Übung erfinden musste, weil ich ein spezieller Fall der Schöpfung bin.
Ich muss also beginnen, mein Leben einzuteilen, und muss diese Einteilung von Zeit zu Zeit überholen. Denn der Fehler von Quipu und Rosenkranz ist der, dass beide auf statische und abstrakte Erinnerungsformen beschränkt bleiben. Das Problem ist es jedoch, die Formen des Gebetes dem jeweiligen Stand der Entwicklung der Persönlichkeit anzupassen.

Die Idee des Quipus führt er zu späterem Zeitpunkt genauer wie folgt aus:
Ich muss es mit einem Quipu versuchen, das um den Hals getragen wird. Es muss aus einem Edelmetall bestehen. Oder, fällt mir gerade ein, warum so preziös? Aus bunter Wolle geflochten, jedes der betreffenden Gebiete mit einer verschiedenen Farbe gekennzeichnet und Perlen für die einzelnen Teilgebiete verknüpfen. Ich muss darüber nachdenken, jeden Tag, denn ich bin es leid, mit zusehen zu müssen, wie Erfolge durch Schwäche einfach wieder zerstört werden und ich wieder und wieder auf die vorhergehende Position absinke.

17.5.69
Ich glaube, so langsam habe ich es geschafft. Mithilfe der Quipus werde ich es schaffen.
Aber ich darf nicht eher von Bord gehen, bis ich mittendrin bin und die Angelegenheit mich gefestigt hat. Vor allem Hoffnung.

WR nimmt sich vor, den Träumen, die er exakt festhalten will, ebenso wie seinen „geheimsten Regungen“ Platz in seinem Tagebuch einzuräumen. Sie wechseln sich ab mit Plänen, guten Vorsätzen und Gedanken zu Gesehenem oder Gelesenem.

18.5.69
Traum:
ich habe geträumt, dass Mutti nicht mehr richtig sprechen kann, und sie hat mir so leid getan. Wir gingen durch eine Stadt, deren Straßen verschlungen waren. Auf einmal war ich in einem Laden, in dem Kunst war. In einem dreieckigen Ausstellungsraum waren Saiteninstrumente ausgestellt.

Meinen nächsten Urlaub muss ich mit Mutti irgendwo verbringen. Ich schäme mich jetzt noch, wenn ich daran denke, wie Mutti sich gefreut hat, als ich mit Ihr nach (...)burg gefahren bin, ich muss das nächste Mal ohne Bekannte abschleppen. Wenn ich mich jemals selbstständig mache, muss ich Mutti zu mir nehmen und pflegen.
Ich muss das Geld zusammenbekommen für eine richtige Kur. Lohnsteuer. Man sollte sich im Grunde genommen schämen.

19.5.69
Jetzt muss ich anfangen, die Gitarre endlich von Grund auf zu lernen. Die einzige Möglichkeit, Noten, Kontrapunkt und Generalbass zu lernen.

3.6.69
In der letzten Zeit geht alles ziemlich turbulent zu, sodass ich vermute, entweder Rausschmiss, oder Job wie immer ....
Ich muss handeln: Bar aufmachen, Geld verdienen, Haus bauen, Atelier und Hotel und drucken, dichten, Musik komponieren und Studien.

Im Augenblick stelle ich fest, bin ich ganz zufrieden.
Aber wie so oft verliere ich den Überblick über das Ganze. Was ist nun richtig?

6.6.69
Traum:
Ich stand in einem Raum, der voll von Schalttafeln wie bei einem Raumschiff oder Computer war. Ich fragte an, ob ich denn nicht endlich an der endgültigen Umwandlung teilhaben könnte. Als Antwort erhielt ich die Warnung, dass es noch nicht so weit wäre. Vorher war es mit zu viel Risiko verbunden und gefährlich, anschließend, eine ähnliche Szene, bestand ich eine Prüfung, bei der ich Bass und eine Melodie spielte. Es spielten auch Frauen mit feisten Schenkeln eine Rolle.

Ich muss sehen, dass ich in dieses Buch auch meine geheimsten Regungen aufzeichne. Die Beschreibung Mr. Luhans des Künstlers schmeichelt mir sehr. Die seltsame Sprachweise des Herrn Weidners.
Ich muss das Quipu haben.

Piranesi und Desideria, Dali.
Artifizielle Landschaften malen und kristallisieren.
So langsam beginne ich die Werbung, Radio und Fernsehen zu verstehen. Ich glaube, ich verstehe das Leben und zu leben. Ich muss überschauen, dass ich nicht zu früh mit der Umwandlung beginne. Ich bin wieder mal in der Verpuppung. Wie oft noch.

Mir kommt es so vor, als befinde ich mich in einem Zustand der permanenten Metamorphose, die erst mit dem Tod eine endgültige andere Form findet, und je mehr man sich verwandelt, umso deutlicher wird diese zukünftige Form ausfallen.

Wahrscheinlich kann sich der Tote noch 49 Tagen etwa mit dieser Welt verständigen, dann wird sein Vokabular so anders, dass nur noch Energieformen wahrnehmbar sind, deren Entschlüsselung uns nicht mehr gelingt.
Spekulationen über die Verständigungsform von Energiepartikeln.

Traum:
Ich ging eine Vorortstraße entlang und kam an ein barockes weißes Haus mit Erkern und Giebeln. Unten entlang bei den Arkaden, die in einem Viereck einen Garten umfassen. In der Mitte des Gartens war ein Brunnen, und ein großer schlanker Baum nach der Art der Kokospalmen trug einen einzigen wunderbaren großen gelbgrünen Apfel. Überall lagen etwa 75 cm bis ein Meter hoch Äpfel herum. Wenn ich einen Apfel haben wollte, dann musste ich Tante Ina oder Ida fragen, und ich traute mich nicht. Die Äpfel auf dem Boden waren alle schon angefault, nur der auf dem Baum war noch schön.

Der Hundertwasser-Band hat mich wieder einmal fertiggemacht. Er ist so schön in seiner Farbe und Form und so sparsam in seinen Mitteln. Eine bewundernswerte Persönlichkeit.
Meine Antwort an Hundertwasser ist dieselbe wie an Klee und Wang Wei. Trotzdem!
Ich bin mir oft nicht im Klaren, ob ich nur das Genitalorgan sehe oder mehr.
Vielleicht suche ich etwas längst Vergessenes. Etwas, das mit dem Absterben der grauen Hirnrinde zu tun hat.

Die Plastik mit Rad ma samhara auf dem Rand kommt mir verwandt vor.
Manches Mal in einer stillen Stunde kommt es mir vor, als werde ich verrückt, als wenn es nur einer dünnen Membrane zu verdanken ist, die mich von dem anderen fremdartig oder besser heimatlich trennt. Durch diese Membrane kommen, wenn auch gefiltert, manchmal Sachen zu mir herüber. Auch kann ich ein frühes Bild dieser anderen Welt sehen. In dieser Welt bin ich mit starken Psi-Kräften ausgestattet. Manches Mal kommt ein Strom zu mir herüber, der meine Persönlichkeit auflädt, das wird aber bald nicht mehr nötig sein, weil meine Kraft in dieser Welt so stark wird, dass die Membrane nicht mehr nötig ist und eliminiert wird. Dann habe ich die schönste Zeit noch vor mir.

Die Sonne mit dem Hof sah aus wie ein großes Auge

Walter Reinhardt Tagebücher 1969Die Sonne hatte heute Mittag einen Hof. Dabei sah sie aus wie eine Perle in einem samtenen, schmutzig gelben Kissen. Der Rand hatte Spektralfarben und dann das Blau des Himmels ...
Es war das größte Mandala, die sich vorstellen lässt. Das muss ich malen.

13.6.69
Heute hatte ich meine Uhr vergessen und und orientierte mich an Ereignissen, die außerhalb meines Wissen lagen.

14.6.69
Sonnenbrand
Traum:
Ich habe meine Musik gehört (Bassklarinette, Sopransaxophon), Flöte, Trompete o. Posaune, (Drum, Bass), Gitarre, Sticks, Conga + Bongo.
Außerdem stand ich unter Wasser und lebte unter Wasser.
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„Understanding Media“ ist ein kluges Buch, das mich sehr weit gebracht hat.
Ich habe meinen persönlichen Konflikt besser verstehen gelernt.

Traum:
Ausführlich wie vorher.Walter Reinhardt Tagebücher 1969
Ich ging eine Straße entlang, da hörte ich aus einem Laden Musik. Ich machte die Tür auf und es war ganz dunkel, und klappte sie anschließend gleich wieder zu. Ich schlich noch eine Weile um den Laden herum und trat dann doch ein, weil der Drummer und die Bläser zu schön spielten. Der Drummer war ein Schwarzer, mir gegenüber saß ein Weißer der Ähnlichkeit mit dem Selbstbildnis auf der anderen Seite hatte.

Ich fragte: „May I listen?“, darauf antwortete er: „Quatsch nicht so dusselig!“ Rechts von ihm in Stuhlhöhe stand eine  grünliche Buddhamaske. Ein Schwarzer mit Hut bot mir eine Zigarette an.
Dann schlief ich in einem Zimmer. Nebenan wohnt ein barfüßiges Mädchen, das meint, dass breite Hüften nicht gefragt sein. Ein schlankes Mädchen, das wenig Zeit hatte, küsste mich mit Leidenschaft. In einem Keller, der dunkel war, erkannte ich eine Ratte, die ich anpisste und die erst mich und dann jemand anders ansprang, bevor sie in einem Strom von Pisse vom Abfluss verschluckt wurde.

Das Bemühen um das Verstehen, wie die Welt bis in ihre kleinsten Teilchen funktioniert, und der Wunsch einer zielgerichteten Perfektionierung des eigenen Lebens betreibt Reinhard auf mehrerlei Art und Weise: Er versucht sich Marshall McLuhans Deutung der Medien und ihrer Funktion anzueignen, studiert Malerei von Hundertwasser, Dali, Klee und Walter Reinhardt Tagebücher 1969Wang Wei. Daneben sucht er mithilfe des I Gings und der karmischen Reinigungsrituale sowie des Dokumentierens seiner Träume auch durch spirituelle Erfahrungen den Weg zur Umsetzung seiner Ziele – darunter auch das Abnehmen – zu erreichen. Nahezu jeder Eintragung oder Skizze ist wieder das Mantra vorangestellt.

21.6.69
Ich begebe mich wieder einmal in Gefahr, mich um Dinge anderer Leute zu kümmern, und bin selbst noch nicht reif, ich muss mich zurückhalten, endlich Geld verdienen, um Dinge zu erreichen, die mir ein gutes Ende zu sichern. Das Geld braucht man, um sich eine Oase zu schaffen.

22.6.69
Was ist das, das Leben nach dem Tode?
Aus Toledo einer fand die Antwort, und einer aus Kathmandu.
Was ist das, die Explosion einer Seele? Und ich erlebe den Zustand einer Implosion, das ist es, was mich so verwirrt, aufgezogen in der Expansion, leben in der Konzentration. Die Antwort liegt bereit, nicht bereit bin ich.
So muss ich noch eine Weile die Welt der Ozeane über mich fließen lassen, bis ich den Mut zur endgültigen Lösung entwickele. Dann aber ist da keiner, der mir glaubt. Es sind nicht die Mittel, die mir fehlen, sondern der Wille und die Konsequenz.

23.6.69Walter Reinhardt Tagebücher 1969
Höchstes Verständnis, das zu verzeihen versteht, gilt als höchste Gerechtigkeit. Die Dinge zu sehen wie sie sind, schließt die Emotion nicht aus.
Was ist der Unterschied zwischen Labilität und Flexibilität?

labil dynam. negativ
stabil statisch
ausgeglichen = kein Zustand

Jetzt verstehe ich auch, wenn stabile Gemälde langweilig sind, ebenso Menschen.
Vielleicht ist das Huhn auch die Idee des Eis, damit neue Eier produziert werden.
Ein Drama, in dem der Missetäter einfach kein Karma besitzt (Urzeugung) und damit den Change bewirkt.
Ein Computerdrama, das keins ist, weil Computer kein Karma besitzen.
Das Leid auf Erden kommt meistens durch Ereignisse, gegen die man nicht gerüstet ist.

30.6.69
Im Augenblick möchte ich nichts anderes als viel Geld, um meine Schulden bezahlen zu können, und ein Hotel mit Diskothek und Bar mit Big Band.
Eine Gitarre spielen wie Bud Powell, das Klavierspiel, oder Monk.

14.7.69Walter Reinhardt Tagebücher 1969
Erst wenn man klar erkannt hat, dass die Leidenschaft Leid bringt, vermag man sie so zu unterscheiden, dass man das wieder von sich abtut und ein höherer Frieden entsteht.
Wenn das Begehren sich weigert, der Wille zur Ruhe kommt, dann tritt die Welt als Vorstellung in die Erkennung. Das ist die Welt der Kunst.

Die zahlreichen Skizzen und abgebildeten Objekte auf den Seiten  sind in der Qualität und Differenziertheit der Ausführung sehr unterschiedlich – mal sind es an Kinderzeichnungen erinnernde Strichzeichnungen, dann wieder ordentlich mit den typischen „Mustern“ ausgefüllte, aus geometrischen Formen zusammengesetzte Objekte und Wesensformen zwischen Tier, amorphem Objekt und Mensch – organisch und/oder mechanisch. Mal erinnern sie an Fantasiewesen, die von anderen Planeten stammen könnten, dann wieder lassen sich typische Elemente der Götter der Inka und Maya oder Azteken an ihnen erkennen.

Es ist schlimmer, als ich gedacht habe. Solche Leute können einem die Lust an der Arbeit nehmen.

27.7.69
Wenn das Begehren sich weigert, der Wille zur Ruhe kommt, dann tritt die Welt als Walter Reinhardt Tagebücher 1969Vorstellung in die Erkennung. Das ist die Welt der Kunst.

30.7.69
Manchmal überlege ich mir, ob ich besser nicht geboren worden wäre.
Aber wofür all diese Anstrengungen? Ich stürze mich auf alle Sachen, die mir unerreichbar sind. Warum muss ich besser sein als der anderen. Und dann Musik, Malerei, Geld, Frauen ... alles Dinge, mit denen ich glaube, dass ich in diesem Leben nicht fertig werde. Letzthin hatte ich eine Vision vom Tod, wo nichts mehr kam. Absolut nichts. Und ich schrecke dann davor zurück wie ein Kind vor dem Dunkeln.
Und dann noch die Dichterei, ich bin müde und halte mich wachsam mit AN1 über Wasser.

1.8.69
Sieht man an sich etwas Schlechtes, so tut man es ab.
Diese ethische Veränderung ist die wichtigste Mahnung der Persönlichkeit.
Die wichtigste Negative: Geltungsbedürftig – willensschwach. Zielstrebigkeit ist vorbildlich.

Niemand kann mir den Sinn eines Fischs verraten.
Sie sind Geschöpfe Gottes! Wo aber liegt der Sinn bei mir? Eine Spirale fängt an und verflüchtigt sich. Spekulation über die Unendlichkeit: in Wirklichkeit ein Atom des Universums, von einer Seite gesehen mit Augen, die drei Seiten sehen können. Wo ist Walter Reinhardt Tagebücher 1969mein drittes Auge geblieben?

8.8.69
Soweit ich sehen kann, liegt, dass ich nicht vorwärts komme, hauptsächlich daran, dass ich zu viele Möglichkeiten um mich versammele, sowohl in Musik als auch in Malerei.
Du willst Noten lesen und Harmonie lernen, also führe das entsprechende Material mit dir, du willst malen, also führe das und nur das Material bei dir.

In Québec die Malschule.
Ich wundere mich immer wieder, wieso ich nicht über eine Stadt schreiben kann, über die Menschen etc. Es dreht sich nur um eins, Menschen und Malerei sind meine Probleme.
I’m miserly depressed.

12.8.69
Ich muss die Form meiner Tagebücher etwas changen. Mehr die Tagesgeschichten zeichnen (Skizze eines Arbeitsplatzes)
Was ich mir vornehme und überdacht ist, muss so bald als möglich ausgeführt werden.
3-4 Bilder übereinander malen, jedes in einer anderen Farbe.
Ich muss mich langsam auch wieder der Außenwelt zuwenden.

20.8.69Walter Reinhardt Tagebücher 1969
Im Grunde genommen ist es sehr schwer, mich zu erziehen. Ich habe es schon mit allen möglichen Tricks versucht, der einzige, der bisher gut anschlug, war das Tagebuch. Man muss natürlich auch sehr vorsichtig sein, sonst könnte man die Grundsubstanz verderben. Als Erstes muss ich sparen. Zweitens muss ich abnehmen und zugleich lernen bis zum Geht-nicht-mehr.

Es kommt alles auf die Intensität an, mit der man etwas betreibt.
Geld, Gitarre oder ähnl. intensiv und immer im Auge behalten, dann gelingt einem alles. Und ich muss in Zukunft alles mit großer Intensität betreiben.

22.8.69
Ich muss unbedingt anfangen, etwas für meinen langsam verkommenden Körper zu tun.
Damit ich endlich die mir zustehenden Muskeln erweitere.
Dem Frühling sei die Macht gegeben, zu handeln wie ein Herrscher ohne Titel. Worunter meine Malerei oft leidet oder besser, ich muss das Preziöse in mir noch mehr entwickeln. Diesen besonders kostbaren Stil der Collage oder Bambusmalerei.
Es sind immer die Hintergründe, die genau ausgewählt werden müssen. Es sind dies Interieure wie bei den Collagen von Max Ernst. More Calligraphy!

Es sind dies die zarten Farben tertiär und quartiär, es sind ausgefeilte Formen, wie bei einem Essen. Man soll nicht zu viel würzen, von keinem zu viel. Zu viel ist, was auffällt, ohne dass es den Voraussetzungen entspricht. Es ist, wie wenn man ein Bauernmädchen in ein feines Kleid steckt, das noch nie auf Stöckelschuhen gelaufen ist.
Auf diese Erkenntnis muss entschlossen beharrliches Handeln erfolgen. Denn nur wenn man entschlossen dem Schicksal entgegengeht, wird man damit fertig.

26.8.69
Die Ausstellung Metro besucht, dann ging's auf die BBS.
Das war so lustig wie selten. Ich fing also ein junges Mädchen, ca. 16-17, ein, und ging mit ihr aufs Zimmer. Sie war ganz schlank mit Andeutungen von Brust und einem ganz kleinen Po. Also es ging eine ganze Weile, dann klopfte es, wir wurden die ganze Zeit irgendwie gestört und kurz davor ging‘s also wieder zurück, und die Kleine schimpfte, aber nicht ordinär, und war auch geil, ich hätte mich totlachen können. Ich gab ihr dann 10 mehr.

27.8.69
Dieses Perspektiven-Buch von Vredemann ist wirklich gut, etwa das, was ich schon lange gesucht habe. Der Rest kommt von allein.
Selbstständig und kleines Luxushotel mit allen Entfaltungsmöglichkeiten, die sich bieten.
Die paar Jahre wirst Du auch noch überstehen.

27.8.69
Ich muss ein Verhältnis zur Natur bekommen. Vom Gras bis zum Berg und vom Hügel bis zum Käfer.
Es stellt sich immer wieder die Frage, wofür, wozu und was bin ich. Aber ich muss jetzt durchhalten, und das Rauchen ist eine Art Präzedenzfall. Prestigeprojekt, Repräsentationsobjekt, und davon hängt viel ab.

29.8.69
Den Stempel muss ich mir unbedingt in Bremerhaven machen lassen. Dann kann ich auch an den J. Rawny und Waldron-Sounds rangehen und habe zugleich beste Etüden. Später die komplizierteren, und noch später dann als Belohnung eine Vox mit großem Fender Bass-Verstärker.
Ansonsten muss ich mir den Hindemith und den (...) holen und ich muss Mango sprechen und schauen, dass ich Hpl bekomme für N.Y., wenn wir die Woche frei haben. Nächstes Jahr um die Zeit mache ich auf jeden Fall Urlaub und bin in Frankreich oder Spanien den (...) muss bis dahin spielen können wie eine Bitch.

30.8.69
Traum:
Ich hatte ein Geschwür in den Fingern, nicht größer als ein Stecknadelkopf. Nach ein paar Tagen konnte ich zentimeterdicke Fetzen von der Haut abreißen und darunter war kein Fleisch, sondern eine grauweiße, an weiches Pflanzenmark erinnernde Masse. Ich klebte diese Geschichte wieder mit der angerissenen Haut zu und hatte ein unangenehmes Gefühl. Auf einmal entdeckte ich ein trichterförmiges Loch im Knochen des Armes und ich goss, deutlich sehend, dass anstelle des Knochenmarkes nichts war, Cognac in das Loch. Und ich dachte mir, jetzt wirst Du nicht mehr lange leben, und ich lachte dabei – aber irgendwie leicht und ohne Sorgen. Die Form des Knochens war sehr seltsam, und zwar ähnlich wie bei den Gliederpuppen, die als Modell dienen, oder aus einem porzellanähnlichen Material, und das Fleisch war nur darübergepappt, um die Knochen vorzutäuschen. Ich kam mir vor wie eine eilige Nachahmung.

Maya ist wie kinetische und potenzielle Energie.
Die Luft in einem Krug ist dieselbe wie die um mich herum, es ist aber doch derselbe Zustand. Erst wenn der Krug zerbricht, ist der alte Zustand wieder hergestellt.

6.9.79
Wenig Zeit, jetzt im Rauchzimmer, vielleicht später auf Cruise mehr aber dann wachsam because Money. Hoffentlich bald eine eigene Bar, aber der Job ist gut. Hauptsache, Kohle stimmt.

Ich muss sehen, dass ich die Platten ... das Ten Bamboo Studio und meine Schulden, damit Stellung auf dem Land im Kurbad, Insel oder ähnlich mit Zeit und zwei Jahren nur spielen, Arbeit und …….
alles scheiße

20.9.69
Das einem so leicht die Konzentration abhanden kommen kann.
Daran sieht man, wie labil ich noch bin. Ich muss mir wenigstens einige Konzentrationsübungen am Tag angewöhnen. Morgens Nase reinigen und vor dem Schlafen Taxi und meditieren.
Diese Dame von Heute hatte etwas Unerledigtes an sich, was mich ungeheuer reizte.
Ich muss in Zukunft mehr Impressions-Stenogramme aufnehmen.

25.9.69
Ich glaube, jetzt habe ich es auch endlich mit der Fresserei geschafft. Ab heute genaue Kalorienkontrolle!
Es kommt mir so vor, als wenn ein oder zwei oder mehrere Gedächtnisse mein jetziges überlagern. Ich muss demnächst Pot haben. Oder ich müsste übernatürlich begabt sein. Aber weshalb das alles.

Es ist auf jeden Fall eine Zeit, in der sich alles, aber auch alles zu klären beginnt.
Wenn ich von Bord des Schiffs gehe, ist alles klar: malen, Musik, leben und lieben. Dann bin ich endlich frei. Gott sei Dank.

WR führt seitenweise Ideen zu Materialverarbeitungsmöglichkeiten und künstlerischen Techniken dazu an, wie er aus teilweise kunstfremdem Material nach verschiedenen Vorbildern Objekte herstellen will. Darunter sind Verfremdungen vorhandener bekannter Kunstwerke ebenso wie Dekorationen und kunsthandwerkliche Objekte, die er als Anregungen für das eigene Schaffen notiert.

1.10.69
Wellpappe als Grundmaterial für Plastiken, hat den Vorteil, dass es sich gut bemalen lässt, ebenso als Bild mit Tiefenwirkung
The Streetgun Collection
Eine Puppe mit Öl + Gips verfremden
Dubuffet
mit Farbe und ausgefüllten Krixeleien
Die Essenz des Gegenstandes der Betrachtung durch Analyse oder Ideogramm destillieren.

Die Picassos + Marcs im Postkartenformat.
Plastiken aus Zahnstocher, die mit Fäden oder buntem Papier bedeckt sind.
Miniaturfiguren aus Wachs, Ton wie bei Azteken, Inka und Maya
Wandbehang Perlen Wolle
Tuch Schnur (Skizze)

Wandbehang aus Grundstoff mit anderen Rahmen bunt machen (Skizze)
Plexi Rahmen (Skizze)
Schnurplastiken auf Sackleinwand oder Holz.
Bronziert, Silber oder Gold
Teppiche aus zusammengesetztem Mantelstoff.

Lampenschirme aus Reispapier mit Sumi von Foto in Siebdruck. Die Frage der Serie
klären. Die Serie ist das und Wunder und sehr wandelbarer Form.

Die Fotografie stellt mich vor ganz neue Probleme im Betrachten.
Der Unterschied zwischen Prismenuhr und Mattscheibe besteht darin, dass man bei Prismenuhr integriert, während man bei der Mattscheibe die Welt artifiziell betrachtet, wie im Ausschnitt

5.10.69Walter Reinhardt Tagebücher 1969
Ich muss jetzt reinen Tisch malen. Alles klar zum Gefecht machen.
Erst Schulden, dann ... und herausholen, was zu holen ist.

11.10.69
An sich ist ja mein Gebiet das Psycho-Portrait mit allen Raffinessen der Technik und dem anderen, und das werde ich auch machen. Jedes Portrait.
Ein Portrait der Seele entsteht Seelensondierung als Spiegelbild der Unruhe im Es.
Bis jetzt habe ich mich immer selbst portraitiert. Ich muss bald die Kurve kriegen, oder ich probiere es mit Stoff, und wenn dann nichts geht, dann muss ich weg ... Gitarre und malen. Ich glaube, ich werde langsam gut.

29.10.69
Diese Riesenwand bei KLM. Schwarz mit Lichtern von hinten
Und angesägten oder gestanzten, auch dreidimensional (Skizze)
Pearl Dressing aus zusammengenähten Perlschnüren (Skizze)
und einfaches Kleid aus aufgenähten Perlen und aufgenähten Dessins und Blumen
Das Kleid als Collage
Kleider Klimtuhr Prägung mit Gold und Perlen.
Baumwurzel-Ikebana (Skizze)
Ähren im Sand bei Cartier
Moderne Kunst als Dekoration in Juwelierläden

Contemporary-Art-Sound
oben das alte Klavier mit den vielen Sound Instrumenten und elektrische Blues-Groove-Maschine (Skizze)

Auf Samt-Hintergrund
Pennys + Vögel und gleichartige Strukturen, etwas Wesensfremdes damit entwerfen.
Auch Briefmarken benutzen.
-----------------------
Blumen, Wurzeln und bunte Fäden zu Portraits mit Wasserfarben ergänzen.
Muschel- und Steinsammlung
Schlüssel auf Samt
quasi Perspektive in Farbe (Skizze)

Vor allem Variationen einer Farbe
Mobiles aus Draht + Muscheln mit Plexiglas-Block als Grundlage. Ebenso aus Ästen Baumwurzeln, Draht aus allem, was herumliegt.
Kiesel, den Wert erhöhen durch Kristall, Silberdraht und Bernstein.
Stein- und Mineraliensammlung, darum Kommata
(Skizzen von Apparaturen)
weitere, kleinteilig gezeichnete Skizzen im identisch gleich großen, rechteckigen Format

4.11.69Walter Reinhardt Tagebücher 1969
So langsam werde ich auch bemerkt hier an Bord. Vor allem seitdem ich alles gefunden habe, was ich suchte, muss ich jetzt an Land und viel Zeit haben, um das auszuprobieren. Aber was soll ich machen, jede Sekunde an Bord ist Zeitverschwendung. Aber auf der anderen Seite muss ich bald Geld bekommen durch das Taxi. Mal sehen, was wird.

Die Zeichnungen auf den folgenden Seiten sind sämtlich auf anderem Material ausgeführt und ins Heft eingeklebt. Sie besitzen alle das identische Format, in etwa die Größe einer Visitenkarte

Muss ich doch mal probieren, mein Zeug für 1 DM als Postkarte zu verkaufen, und üben in Südfrankreich.
In der Folge von 2-3 einige 3-15-mal malen oder ähnlich.
Mandalas oder Ornamente als Postkarte …

November 69
So langsam habe ich die Seefahrt wieder einmal und endgültig dicke! Entweder ich mache jetzt Geld fürs Taxi oder ich gehe als Vertreter. Aber 4-5 Jahre halte ich das nicht nicht aus.

Walter Reinhardt Tagebücher 1969Walter Reinhardt Tagebücher 1969Walter Reinhardt Tagebücher 1969Walter Reinhardt Tagebücher 1969Walter Reinhardt Tagebücher 1969Walter Reinhardt Tagebücher 1969

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